Alberto Meda
Alberto Meda macht komplizierte Dinge einfach. Als technischer Leiter des Kunststoffherstellers Kartell setzte der studierte Ingenieur zunächst die Arbeiten anderer Gestalter um, bis er im Alter von 39 Jahren die Seiten wechselte. Er gründete sein eigenes Designbüro in Mailand und entwarf mit der Leuchte Jack (1985) für Luceplan sein erstes Produkt. Mit seinem Meda Chair (1996) für Vitra befreite er den Bürostuhl vom Leitbild der Maschine – ein Projekt, das ihn für fast zwanzig Jahre beschäftigen sollte. Mit den Stühlen MedaPro (2004), MedaPal (2005) und MedaGate (2010) folgten weitere Entwicklungen, bis zur Orgatec 2012 mit Physix das derzeit aktuelle Modell der Reihe präsentiert wurde. Wir trafen Alberto Meda in Mailand und sprachen mit ihm über Hängematten, Plattformstrategien und Komplexität, aus der Leichtigkeit wurde.
Herr Meda, Sie arbeiten seit 20 Jahren an einem Projekt: der schrittweisen Evolution des Bürostuhls. Beschreiben Sie uns doch, wie es begann.
Rolf Fehlbaum kam 1994 in mein Studio und fragte, ob ich Interesse hätte, einen Bürostuhl für Vitra zu entwerfen. Ich war darüber natürlich sehr glücklich. Aber im selben Moment war ich auch verlegen, weil ich zu dieser Zeit noch keine Erfahrungen mit Drehstühlen hatte. Zuvor hatte ich für Alias den Frame Chair entworfen, der allerdings ein statisches Möbel ohne Mechanik war. Anfangs war es gar nicht so leicht, eine Richtung zu finden. Die ersten Vorschläge kamen nicht so gut an. Danach haben wir wieder etwas Anderes ausprobiert. Plötzlich kam die Idee, eine Feder unter den Sitz zu platzieren. Damit fing alles an.
In den neunziger Jahren sahen die meisten Büromöbel aus wie chirurgische Maschinen. Ihr Meda Chair (1996) für Vitra wirkte dagegen leicht und filigran. Was hat Sie davor bewahrt, die Technik Muskeln spielen zu lassen?
Ich denke, wir sollten uns immer mit Dingen umgeben, die so einfach wie möglich sind. Doch hinter jeder Einfachheit steckt immer eine gelöste Komplexität. Darum habe ich versucht, die Sichtbarkeit der technischen Komponenten so weit wie möglich zu reduzieren. Wenn man den Rücken bewegt, folgt der Sitz in einer synchronen Bewegung, ohne dass die mechanische Komplexität gezeigt wird. Wir wollten das Möbel transparent und verständlich machen.
Wieso haben Sie den Stuhl in eine Familie von zwischenzeitlich sechs Modellen aufgefächert?
Weil der Rahmen des Meda Chair aus Aluminium besteht und damit relativ teuer ist. Der Drehstuhl Meda 2 folgt demselben Konzept, jedoch wird er aus Kunststoff gefertigt. Das hat die Kosten deutlich gesenkt. Dennoch mussten wir unsere Strategie weiter verändern, weil der Preisdruck am Markt weiter zugenommen hatte. Also haben wir entschieden, dass es interessant wäre, zu einer etwas traditionelleren Arbeitsweise zurückzukehren. Aus dieser Überlegung sind die Stühle MedaPro und MedaPal entstanden. Wir haben für sie eine mechanische Plattform verwendet, die mit verschiedenen Rückenteilen kombiniert wird. Auf diese Weise konnten wir für verschiedene Stuhl-Ausführungen ein und dieselbe Basis verwenden und damit die Kosten senken. Die Herausforderung bestand darin, für diese beiden Modelle jeweils unterschiedliche Erscheinungen und Wertigkeiten zu finden. Der Stuhl MedaPro hat einen höheren Rücken und kann um eine Kopfstütze ergänzt werden. Der MedaPal wurde noch etwas weiter vereinfacht. Dennoch basieren beide Stühle auf derselben Idee.
Wie gehen Sie beim Entwerfen vor: Haben Sie die Form der Stühle beim Entwerfen schon fest vor Augen?
Nein, überhaupt nicht. Die Form offenbart sich erst während des Designprozesses. Natürlich fertige ich am Anfang Skizzen an. Aber ich versuche nicht, einen Entwurf auf Biegen und Brechen umzusetzen. Wenn man feststellt, dass etwas nicht funktioniert, muss man einen anderen Weg einschlagen. Das ist ein kontinuierliches „Trial and Error“, bei dem zum Schluss etwas ganz Anderes herauskommt, als anfangs gedacht. Unsere Überlegungen haben wir immer wieder mit Prototypen überprüft, weil es unmöglich ist, das Verhalten von jedem Material genau zu kalkulieren.
Nach dem für Flughäfen konzipierten Sitzprogramm Meda Gate (2010) haben Sie mit Physix (2012) Ihren derzeit aktuellen Drehstuhl für Vitra vorgestellt. Worin unterscheidet sich das Modell von Ihren früheren Entwürfen?
Die Besonderheit dieses Stuhls ist die Kontinuität zwischen Sitzfläche und Rückenlehne. Bei meinen anderen Drehstühlen sind diese komplett voneinander getrennt. Natürlich gibt es dafür historische Vorbilder wie zum Beispiel den Aluminium Chair von Charles und Ray Eames. Was diesem Stuhl aber bislang gefehlt hat, ist eine synchrone Bewegung. Diese konnten wir umsetzen, indem wir anstatt Aluminium Kunststoff verwendet haben. Der Stuhl ist nicht mehr starr und steif, sondern in sich flexibel. Auch folgt die Rückenlehne den Bewegungen des Körpers und lässt sogar dreidimensional Verformungen zu. Das erlaubt ein ganz anderes Verhalten. Man sitzt viel freier und wird nicht mehr in einer starre Sitzposition eingeengt.
Wie haben Sie diese Flexibilität umgesetzt?
Die Elastizität des Rückens entsteht durch die Kombination aus flexiblen und steifen Elementen. Wir haben ein Profil definiert, das am Übergang von der Sitzfläche zur Rückenlehne schmaler wird. Die Bewegung der Rückenlehne entsteht allein durch diese Verjüngung, ohne dass eine zusätzliche Mechanik benötigt wird. Auch die Armlehne funktioniert nach demselben Prinzip. Weil sich ihr Winkel flexibel verformen lässt, kann sie der Bewegung des Rückens folgen. Darum haben wir den Stuhl auch Physix genannt: Wir wollten die Physikalität des Körpers mit der Physikalität des Stuhles verbinden.
Sie sprachen die Verbindung aus festen und flexiblen Komponenten an. Haben Sie diese Eigenschaften allein durch die Stärke der Profile erzeugt?
Nicht ganz. Einige Bauteile, die besonderer Spannung ausgesetzt sind, sind so stabil wie Metall. Wir haben den Kunststoff dafür eigens mit Glasfaser verstärkt. Das Material klingt auch gleich ganz anders, wenn man darauf klopft und ist deutlich schwerer. Unterhalb der Sitzfläche gibt es zudem zwei Aluminium-Ausleger, die das Gewicht ausbalancieren und in den Fuß ableiten. Die Herausforderung bestand darin, eine Lösung zu finden, die nicht nur physisch, sondern auch optisch leicht wirkt. Schließlich wollten wir einen transparenten Sitzbezug verwenden, der die gesamte Konstruktion sichtbar macht. Darum haben wir auch technische Komponenten wie die Federn in eine schmale Box unterhalb des Sitzes integriert. Indem das Möbel eine ruhige Erscheinung erhält, kann es sowohl im Büro als auch zuhause im Home-Office zum Einsatz kommen. Diese Flexibilität war ein sehr wichtiges Kriterium für den Stuhl.
Auch der transparente Stoff sorgt mit einer haptischen, dreidimensionalen Oberfläche für wohnliche Qualitäten.
Das Material fühlt sich überhaupt nicht wie Kunststoff an, sondern eher wie ein Textil, das man als Kleidung auf der Haut tragen könnte. Das richtige Gewebe zu finden, war gar nicht so einfach. Denn es muss einerseits elastisch und andererseits sehr fest sein. Wenn es bei einer Belastung nachgeben würden, säße man ja sonst in einer Hängematte (lacht). Wir haben lange experimentiert, um die richtige Balance zwischen Elastizität und Festigkeit zu finden. Schön ist auch, dass der Stoff aus zwei verschiedenen Fäden gewebt ist. Das erlaubt die Kombination unterschiedlicher Farben. Der Vorschlag kam von Hella Jongerius, die für Vitra schon seit langem als Farbberaterin arbeitet. Sie hatte die clevere Idee, zwei verschiedene Garne zu verwenden. Das verändert die Wirkung des Stuhls enorm, weil der Sitzbezug von der Vorder- und Rückseite anders aussieht und dem Möbel einen wohnlichen Charakter gibt.
Das transparente Textil ist über die Jahre zum Markenzeichen ihrer Drehstühle geworden. Wie sind Sie darauf gekommen?
Einen transparenten Bezug habe ich zum ersten Mal bei meinem Frame Chair für Alias verwendet. Natürlich war es anfangs provokant, das Konzept auf die Bürowelt zu übertragen. Viele, die den Meda Chair zum ersten Mal gesehen haben, dachten, er wäre unbequem. Aber der Stuhl ist komfortabel, weil das Textil für eine genaue Unterstützung des Rückens sorgt. Die Transparenz korrespondiert dabei mit der Idee der visuellen Leichtigkeit. Bevor ich meine ersten Möbel entworfen habe, habe ich ja ausschließlich Leuchten gestaltet. Auf diesem Gebiet ist man regelrecht gezwungen, mit filigranen Konstruktionen zu arbeiten. Denn eine schwere, wuchtige Leuchte würde in extremem Widerspruch zur Immaterialität des Lichts stehen. Indem ich diese Erfahrung auf andere Produkte übertragen habe, wurde die Leichtigkeit zu einer Art Paradigma für meine weitere Arbeit. Auch wenn dahinter keine theoretische Herangehensweise stand: Im Nachhinein könnte man sie durchaus als Theorie interpretieren (lacht).
Herr Meda, vielen Dank für das Gespräch.
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