Alessandro Mendini: in Memoriam
Der Mailänder Gestalter (1931-2019) über tanzende Korkenzieher und subtile Alchimie

„Alles ist Design“, lautet die Botschaft von Alessandro Mendini. Der gebürtige Mailänder war Designer, Architekt, Theoretiker, Provokateur, Autor und Publizist. Am 18. Februar ist er im Alter von 87 Jahren in seiner Heimatstadt gestorben. Bei einem unserer letzten Besuche im Atelier von Alessandro Mendini haben wir mit ihm über tanzende Korkenzieher, theatralische Räume und subtile Alchimie gesprochen.
Herr Mendini, den strengen Funktionalismus der Moderne haben Sie mit Ihren Arbeiten ad acta gelegt. Stattdessen hatten Sie „Objekte mit Seele“ im Kopf. Erklären Sie uns, was genau Sie unter diesem Begriff verstehen. Das italienische Design ist immer mit etwas Romantischem verbunden. Unsere Mentalität ist sehr archaisch. Wenn ich an ein Objekt denke, versuche ich, ein Gefühl zwischen dem Gegenstand und den Menschen herzustellen. Etwas, das positiv und sympathisch ist und eine gute Energie ausstrahlt. Das ist für mich die Seele, die zugleich etwas Spirituelles besitzt. Denn ein Objekt zu gebrauchen, ist immer auch ein Ritual. Zum Beispiel kann man beim Teetrinken die Tasse mit beiden Händen so berühren, dass sie symmetrisch zueinander sind. Man kann aus der Tasse aber auch nur mit einer Hand trinken. Wenn ein Gegenstand dazu führt, dass die Menschen darüber nachdenken, wie sie mit ihm umgehen, dann wird die Handlung zu einem Ritual.
Also steht der Gebrauch eines Objektes im Mittelpunkt und weniger seine Form? Sie sind beide wichtig. Wenn ein Objekt eine sehr einfache Funktion erfüllt, kann man mit der Form beginnen. Wenn die Funktion dagegen sehr komplex ist wie bei einem Flugzeug, muss man bei der Funktion anfangen. Ich arbeite an Objekten, die nicht allzu kompliziert sind wie Küchengeräte oder Besteck. Daher kann ich mit der Form anfangen. (lacht)
Einer Ihrer bekanntesten Entwürfe ist der Korkenzieher Anna G, den Sie 1994 für Alessi entworfen haben. Er ist einerseits ein praktisches Werkzeug und anderseits eine humorvoll-kindliche Figur. Ja, er besitzt zwei Seelen. Die eine ist funktionell, schließlich muss man ihn gut gebrauchen können und er soll auch nicht kaputt gehen. Die andere Seele hat etwas spielend Leichtes. Denn eine Flasche Wein zu öffnen, ist wie ein Ballett oder eine dynamische Performance. Die Handlung gleicht der Szene in einem Theater – nur mit dem Unterschied, dass sie in der eigenen Küche stattfindet. Alle Räume im Haus sind für mich wie kleine Theater. Und die Menschen, die in dem Haus wohnen, sind die Schauspieler in diesem Stück – zusammen mit all den Objekten, die sie umgeben.
Gibt es guten Geschmack? Also ich liebe Kitsch. (lacht) Aber man muss aufpassen. Wenn man an ein Objekt nur im ästhetischen Sinne denkt, ist es ein Fehler. Wenn man an ein Objekt mit einem anthropologischen Zugang denkt, kann man auch ein wenig Kitsch einbringen. Denn die Mentalität der Menschen liebt einen Kompromiss zwischen gut und schlecht. Es ist eine sehr subtile Alchimie.
Wie würden Sie Kitsch definieren? Wenn man zum Beispiel nach Paris fährt und sich einen kleinen Eiffelturm als Souvenir kauft. Bringt man ihn anschließend mit nach Hause und macht aus ihm den Fuß einer Leuchte, dann ist das Kitsch (lacht). Es gibt Regeln für Kitsch. Wenn man ein großes Objekt verkleinert oder die Funktion eines Gegenstandes vollkommen entfremdet, dann ist das auch Kitsch. Für mich ist Kitsch vor allem eine soziologische Frage.
Was passiert, wenn sämtliche Dinge im Haushalt auf diese Weise ein Eigenleben beginnen? Entsteht dann nicht zusammen ein ungeheuerer Lärm? Oder ein Kampf. (lacht) Es stimmt, Kitsch kann in der Summe sehr gefährlich sein. Mit Minimalismus bleibt alles in Ruhe. Aber mit drei Objekten, die stark sind in einem Zimmer, beginnt das Chaos. Von meinen Objekten kann man nur ein einziges im Haus haben und nicht mehrere. Ich muss also auch mit den kalten Dingen leben. (lacht) Es geht dabei jedoch nicht um ein Entweder-oder. Beide Seiten gehören zusammen.
Wie wohnen Sie eigentlich? Hier oben, über meinem Studio. Natürlich habe ich viele Arbeiten von mir. Aber ein Teil von ihnen ist immer auf Reisen für Ausstellungen. Manchmal kommen sie zurück und gehen dann wieder fort. Sie wechseln. Manchmal ist mein Haus leer. Manchmal ist es voll. Alle drei Monate sieht es vollkommen anders aus.
Sie haben den Designbegriff nicht nur auf die industrielle Warenproduktion bezogen, sondern stets weiter gefasst. In von Ihnen kuratierten Ausstellungen haben Sie Designklassiker neben historischen Objekten wie Ritterrüstungen oder trivialen Alltagsgegenständen platziert.Für mich hat das Design mit einer sehr freien und eklektischen Herangehensweise zu tun, die zugleich sehr persönlich ist. Auch die Umsetzung meiner Projekte verläuft sehr individuell. An manchen Dingen arbeite ich mit den Händen, andere entstehen am Computer und wieder andere nur im Kopf. Design ist für mich eine Einstellung zum Leben: sehr, sehr offen. Ich habe keine Berührungsängste.
Entwürfe wie Ihren Korkenzieher Parrot von Alessi haben Sie mit einem Muster aus farbigen, von Hand aufgetragenen Tupfern übersät, sodass sich industrielle Produktion und Handarbeit miteinander verbinden. Das Motiv der Tupfer stammt von Ihrem berühmten Proust Chair aus dem Jahr 1978. Wie entstand eigentlich die Idee zu diesem Entwurf? Ich wollte ein Produkt entwerfen, ohne zu zeichnen. Also habe ich an einen Sessel von Marcel Proust gedacht mit all seiner Mentalität: Barock! Und dann wusste ich, dass Proust ein Freund der Pointillisten war. Also habe ich ein Gemälde von Paul Signac genommen und aus beiden eine Mischung gemacht. Die farbigen Tupfer auf diesen Sessel aufzutragen, war so, als würde man eine immaterielle Energie einbringen: etwas sehr Spirituelles. Mit Tupfern habe ich seitdem immer wieder gearbeitet, weil sie für mich in gewisser Weise eine Art zu Denken sind. Vom Kleinen zum Großen und nicht umgekehrt. Wenn alle Menschen gut sind, ist die Welt gut. Nicht umgekehrt. Das ist zum Prinzip für meine Arbeit und mein Leben geworden.
Der Proust-Sessel entstand anfangs als Einzelstück und ist erst deutlich später von Cappellini in die Produktion genommen worden. Neben Ihren Arbeiten für die Serie haben limitierte Einzelstücke immer wieder eine große Rolle gespielt. Wie wichtig ist für Sie dieses Zusammenspiel aus Unikat und Massenproduktion? Für mich gehören beide zusammen. In einer limitierten Serie zu arbeiten, hatte anfangs vor allem mit Walter Benjamin und seinen Überlegungen über die Reproduktion der Kunst zu tun. Denn auch in Zeiten der Massenproduktion dürfen wir das Unikat nicht verlieren. Ich habe daher kein Problem damit, wenn manche Arbeiten von mir lediglich Prototypen bleiben und die Serie nie erreichen. Sie sind Skulpturen, wenngleich sie manchmal den Anschein eines Gebrauchsobjektes haben.
Parallel zu diesen Arbeiten entwerfen Sie für die Industrie… und dann muss ich präzise Regeln einhalten: Kosten, Timing, Marketing und so weiter. Mein Leben ist also geteilt. Ich entwerfe Objekte, die sehr schnell gehen müssen wie eine Uhr für Swatch und gleichzeitig arbeite ich an Skulpturen, die ohne jeglichen Zeitdruck entstehen. Ein Teil von mir geht sehr schnell und ein anderer Teil geht sehr langsam. (lacht)
Welche Arbeit würden Sie als Ihre wichtigste beschreiben? Ich glaube das Kunstmuseum in Groningen. Denn es ist wie eine Mutter von allen meinen anderen Arbeiten. Ich habe nicht nur das Gebäude entworfen, sondern fast alle Objekte, die in ihm zu finden sind. Wenn Design, Kunst und Architektur auf diese Weise zusammenkommen, bildet auch das Eklektische eine Einheit.
Vielen Dank für das Gespräch.
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