Antonio Citterio
Frisch vom Salone. Der Mailänder Gestalter im Gespräch

Antonio Citterio ist ein Meister raffinierter Einfachheit. Anstatt auf Effekte zu setzen, analysiert er den Gebrauch. Eine Typologie, die der Mailänder Architekt, Innenraumgestalter und Designer in den vergangenen 35 Jahren gleich mehrfach entstaubt hat, ist das Sofa. Dass dieses Möbel auch im Jahr 2017 noch weiterentwickelt werden kann, verriet uns Antonio Citterio bei einem Besuch in seinem Studio. Ein Gespräch über Maßschneiderei, Lässigkeit und Lebensgefühle.
Signor Citterio, Sie haben auf der Mailänder Möbelmesse soeben das Grand Sofà für Vitra vorgestellt. Was hat es mit dem Entwurf auf sich? Ich mag keine Dinge, die allzu kompliziert sind. Wenn ich ein Sofa entwerfe, dann entwerfe ich zunächst die tragende Struktur. Die Kissen sind ja bereits fertig. Ein Kissen ist eben ein Kissen. Das Grand Sofà ist ein komfortables Polstermöbel in großen Dimensionen. Mir gefällt die Idee einer horizontalen Form, die nicht vollständig mit Kissen abgedeckt ist, sondern ein wenig offenbleibt. Genau an dieser Stelle habe ich eine rückseitige Ablage angebracht, die mit der Sofalehne verschmilzt. Wenn man einen Hocker oder einen Stuhl an die Rückseite des Sofas stellt, dient die Ablage als kleiner Tisch.
Das Sitzmöbel wird multifunktional. Ja, schließlich werden Sofas heute ganz anders benutzt als früher. Sie dienen nicht nur zum Entspannen, Lesen oder Fernsehschauen, sondern ebenso zum Essen oder Arbeiten. Das Sofa ist zum neuen Mittelpunkt des Wohnens geworden und rückt von der Wand ins Zentrum des Raumes. Die rückseitigen Ablagen haben wir schon beim vorherigen Programm Suita vorgestellt. Doch da waren sie ein zusätzliches Element, das an der Rückseite des Sofas mit dem tragenden Gestell verbunden war. In diesem Fall ist die Ablage direkt mit der Lehne verschmolzen.
Und wie finden Sie dafür die richtige Form? Meine Kreativität ist sehr indirekt. Das heißt, sie ist eine Reaktion auf Kreativität. Ich sehe etwas und beginne, an etwas anderes zu denken, das mitunter auch das Gegenteil sein kann. Ich habe viele Bücher, in denen ich nach einem Ausgangspunkt suche. Im Falle des Grand Sofà waren es für mich die Sechzigerjahre, als der Aufbau und die Struktur vieler Sofas sehr leicht waren. Das hat mich fasziniert. Denn ich wollte, das auch dieses Möbel trotz seiner großen Dimensionen etwas Leichtes besitzt. So entstand die Idee eines schwebenden Volumens, das von einer sehr architektonischen Struktur getragen wird. Diese Aluminiumelemente sind zum Schluss zur Handschrift des Projektes geworden. Sie geben dem Sofa seinen Charakter.
Worin liegt die Herausforderung beim Entwerfen eines Sofas? Die Arbeit ist eine Mischung aus Autosattler, Maßschneider und Architekt. Um diese drei Komponenten zusammenzufügen, ist es sehr wichtig, eine Vorstellung von der Welt des Interieurs zu haben. Natürlich geht es um das konstruktive Verständnis, wie ein solch großes Volumen angehoben und im Raum platziert wird. Doch ebenso wichtig ist das Knowhow, wie ein zweidimensionaler Stoff in etwas Dreidimensionales verwandelt wird. Wie sehen die Nähte aus? Wie schneidet man den Stoff zu? Wie werden die einzelnen Teile zusammengenäht, damit sie sich zu einem stimmigen Gesamtbild zusammenfügen? Ein Sofa ist im Grunde wie ein Jackett.
Inwieweit hilft Ihnen hierbei Ihre Arbeit als Architekt und Innenarchitekt? Sie gibt mir natürlich eine Richtung vor. Häufig weiß ich, was ich brauche, weil ich schon eine konkrete Anwendung vor Augen habe. Zusammen mit meiner Büropartnerin Patricia Viel arbeiten wir an zahlreichen Architekturprojekten, darunter allein sieben Apartmenthochhäuser in Asien. Sehr hilfreich sind hierbei auch unsere Erfahrungen im Hotelbereich. In vielen asiatischen Ländern werden Apartmentgebäude immer mehr wie Hotels geplant. Die ersten zwei oder drei Etagen sind mit Restaurants, Lounges und einem Swimmingpool ausgestattet, darüber liegen die Wohnungen. Die Idee, eine Gemeinschaft innerhalb des Hauses zu erzeugen, ist sehr clever. Bei uns in Europa sagt man höchstens „Guten Morgen“ und „Guten Abend“ im Treppenhaus. Und das war es. Doch wie auch immer. Über die Frage, wie die Menschen leben möchten, denken wir bei diesen architektonischen Projekten nach – und das fließt wiederum auch in die Entwicklung der Produkte ein.
In Ihrem Mailänder Büro arbeiten 75 Architekten. Das Design machen Sie hingegen fast allein. Warum? Mein Job sind Architektur und Interieur. Das Design ist eher mein Hobby. Ich will nicht sagen, dass ich daran in meiner Freizeit arbeite. Design ist ein fantastischer Job. Man trifft viele, verschiedene Menschen in den Unternehmen. Doch es ist einfacher und direkter in der Umsetzung als die Arbeit an einem Hochhaus. Ich arbeite aber auch seit vielen Jahren immer mit denselben Firmen zusammen: mit B&B Italia und Flexform seit den frühen Siebzigern, mit Vitra seit Mitte der Achtzigerjahre. Diese Kontinuität ist mir sehr wichtig, weil schließlich nicht nur die Beziehung mit den Inhabern entscheidend ist, sondern ebenso die zu den Teams, ohne die ich meine Ideen nicht umsetzen könnte.
Gibt es ein Architekturprojekt, das Sie gerne noch machen würden? Ich habe ich noch nie ein Museum entworfen. Ebensowenig ein Krankenhaus. Krankenhäuser sind normalerweise eher unangenehme Orte. Sie haben in Teilen auch etwas von Hotels, weil Menschen in ihnen Zeit verbringen und dort schlafen. Doch es wäre schön, eine vollkommen andere Atmosphäre zu erzeugen. Wenn man heute ein Krankenhaus betritt, sieht man überall diese seltsame hellgrüne Farbe und ein fürchterliches, eiskaltes Licht. Selbst wenn man gesund ist, fühlt man sich dort schlecht. Ich denke, dass wir an dieser Stelle etwas anderes brauchen, das stärker auf die emotionalen Qualitäten Rücksicht nimmt.
Mehr zum Salone del Mobile 2017 lesen Sie in unserem Special.
Antonio Citterio & Patricia Viel
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