Captain Organic
Highflyer2000: Ross Lovegrove
Der britische Industriedesigner Ross Lovegrove, geboren 1958, experimentiert wie kaum ein anderer Gestalter seiner Generation mit neuen Materialkombinationen, Produktionsverfahren und der Digitalisierung von Prozessen. Sein interdisziplinärer Arbeitsansatz umarmt mit Neugier Bereiche wie die Molekularbiologie, Physik, Anthropologie, Philosophie und Ökologie und entwickelt daraus Produkte und Prozesse, die von einem eleganten Funktionalismus geprägt sind. Captain Organic, so sein Spitzname, studierte Industriedesign am Polytechnikum in Manchester und am Royal College of Art in London.
Wissen Sie noch, an welchen Projekten Sie zu Beginn des 21. Jahrhunderts gearbeitet haben?
In der Tat sind im Jahre 2000 und in den ersten Nullerjahren die wohl fortschrittlichsten und ästhetisch neuartigsten Arbeiten entstanden, die ich bisher gemacht hatte – sowohl auf einer philosophischen Ebene, wie auch materiell und formal. Beispielsweise die Wasserflasche für Tŷ Nant: PET, das mittels kieferorthopädischer Scantechnologie blasgeformt wurde. Die Flasche war eines der ersten digital erzeugten, individualisierbaren Verbraucherprodukte. Der Stuhl GO war weltweit der erste spritzgegossene Stuhl aus Magnesium und wurde in Nürnberg hergestellt. Und dann war da noch der Sitz Skysleepersolo First Class für Japan Airlines, bei dem wir eine 3D-geformte Waben-Sandwich-Konstruktion – damit der Sitz so leicht wie möglich wird – und eine 2 Millimeter dicke Elektrolumineszenz-Beleuchtung verwendet haben.
Was interessierte Sie im Jahr 2000 – und in den ersten Jahren dieses Jahrhunderts – ganz besonders?
Für mich war der Übergang vom 20. zum 21. Jahrhundert extrem wichtig. Es war ein Moment, auf den ich in Erwartung einer schönen neuen Welt hingearbeitet hatte, die weiß, silber, sauber, modern und zunehmend intelligent sein sollte. Das mag naiv klingen, aber es gibt zu bestimmten Zeiten Brücken, die wir überqueren müssen und durch die wir gezwungen sind, vorwärts zu gehen. Nur so können wir unser Potenzial voll ausschöpfen und uns von Nostalgie, dem ewigen Bezug zur Vergangenheit, befreien. Für meine Arbeit hieß und heißt das: Jedes Projekt hat seine eigene Forschung und Technologieanwendung verdient. Blicke ich zurück, ist es schwer vorstellbar, wie wir, als kleines Studio, mit der Komplexität des Ganzen umgegangen sind. Aber mit dem Sitz für Japan Airlines wollte ich einen organischen, amorphen Raum produzieren, der mit keiner terrestrischen Erfahrung vergleichbar war. Und bei GO wollte ich Form und Leichtigkeit kombinieren. Um das umzusetzen, habe ich Peter Schreyer bei Audi angerufen, denn ich wusste, dass die gerade die Verarbeitung von Magnesium für Räder und andere Autoteile untersuchten.
Was sind nach Ihrer Meinung die wichtigsten Treiber, die die Designbranche in den letzten 20 Jahren verändert haben?
Meine Generation ist diejenige, die von analogen Gestaltungsprozessen hin zu zeitgenössischen Entwicklungsprozessen von hoher digitaler Komplexität übergegangen ist und diese mitentwickelt hat. Und es beunruhigt mich, dass Design immer noch als Sofas, Tische, Leuchten und Hocker verstanden wird. Ich kann mit dieser Betrachtungsweise nichts anfangen, weswegen man mich nur noch selten in dieser Welt antrifft. Der wichtigste Treiber im Bereich des Industriedesigns, der uns dorthin geführt hat, wo wir jetzt stehen, und der uns selbstverständlich weiterhin antreiben wird, ist die Digitalisierung. Für mich geht es dabei mehr um die Entwicklung von Prozessen, deren Datengenerierung und -übertragung alle Beziehungen zwischen Design, Materialwissenschaften und Fertigung rationalisiert.
Was interessiert Sie heute?
Die Zusammenarbeit mit solch zukunftsweisenden Unternehmen wie den Softwareunternehmen Hyperganic und Nagami ist äußerst spannend und inspirierend. Zudem habe ich zwei Start-ups gegründet, eines davon in New York City namens „Future Air“, das sich mit der Überwachung von Luftschadstoffen befasst, und ein weiteres, das auf einer tieferen spirituellen Verbindung zu Design und Technologie basiert.
Wenn ein junger Designer Sie um einen Rat bittet – was sagen Sie dann?
Was Sie konzipieren und schaffen, ist eine Repräsentation ihres Selbst!
Dieser Artikel ist Teil des Dossiers: 2000-2020: 20 Jahre Interior & Design