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Der Designentdecker

2000-2020: Giulio Cappellini im Gespräch

Giulio Cappellini ist die Spürnase des Designs. Prominente Namen wie Jasper Morrison, Marc Newson oder Marcel Wanders verdanken ihm ihren Durchbruch. Auf der Suche nach neuen Köpfen und Ideen reist der Kreativdirektor der Möbelmarke Cappellini zwei Drittel des Jahres um den Globus – wenn er nicht gerade coronabedingt pausieren muss. Ein Gespräch über Vielfalt, Vernunft und Freiheit.

von Norman Kietzmann, 16.10.2020

Mit Ihrem Möbelunternehmen haben Sie die Gestaltung um die Jahrtausendwende herum geprägt wie keine andere Marke. Inwieweit hat sich das Design in den Jahren 2000 bis 2020 gewandelt?
Ich glaube, dass sich die Arbeitsweise im Design grundlegend verändert hat. Noch im Jahr 2000 war der Zugang recht locker, weil die Gestalter eine Idee und grobe Form geliefert haben. Die Umsetzung erfolgte durch die Firmen, die damals noch in viele verschiedene Abteilungen getrennt waren: von der Fertigung über die Kommunikation bis zum Vertrieb. Heute greifen diese Dinge ineinander, sodass wir wirklich in einem 360-Grad-Radius arbeiten: von der ersten Idee bis hin zur finalen Präsentation. Die Designer sind heute Teil dieses Prozesses. Sie sind Teil eines Teams. Das ist der große Unterschied zwischen dem Jahr 2000 und heute.

Worin liegt der Grund für diese stärkere Einbindung?
Der Markt hat sich verändert. Für eine Marke wie Cappellini bestand er vor zwanzig Jahren aus Europa und ein wenig Nordamerika. Aber das war es. Heute ist der Markt die ganze Welt. Um mit den neuen Märkten zu kommunizieren, müssen wir auf einer internationaleren Ebene agieren. Darum ist es wichtiger denn je, mit Designern zu arbeiten, die aus vielen verschiedenen Teilen der Welt kommen. Ich besuche viele Messen, bin Jurymitglied bei vielen Wettbewerben und schaue ständig nach neuen Talenten.

Wie kommt es, dass Sie bereits frühzeitig den Fokus auf das Internationale gesetzt und mit Designern wie Jasper Morrison, Tom Dixon oder den Bouroullec-Brüdern gearbeitet haben?
Als ich anfing, war Cappellini noch eine sehr kleine Firma. Und die großen italienischen Designer arbeiteten alle für die großen italienischen Unternehmen. Ich dachte mir: Das ist gut. Aber es muss etwas in der Welt passieren. Also bin ich nach Nordamerika, Japan und in viele europäische Länder gereist und habe dort all diese interessanten Leute getroffen, die am Anfang ihrer Karriere standen. Manchmal dauerte es vom ersten Treffen zum ersten Produkt sechs Monate, manchmal drei Jahre. Mit einigen Designern haben wir an Prototypen gearbeitet, ohne je zu einem Produkt zu gelangen.

Ist Cappellini deswegen zu einer einflussreichen Marke geworden, weil Sie eine Vielzahl an unterschiedlichen Stilen verfolgen? 
Ja, für mich ist das Wichtigste, eklektisch zu sein. Denn das Design spricht mehr als nur eine Sprache. Meine Rolle als Art Director besteht darin, einen roten Faden zu finden, der die verschiedenen Stimmen und Geisteshaltungen der Designer verbindet. Wenn man ein sehr ruhiges und einfaches Produkt von Jasper Morrison nimmt, muss es mit der organischeren Sprache von Marc Newson zusammenpassen. Diese Idee der unterschiedlichen Zugänge zeigt sich auch bei der Fertigung. Es gibt Produkte, von denen wir 13.000 Stück im Jahr verkaufen, von anderen vielleicht nur tausend. Wiederum andere Produkte sind limitierte Editionen im zweistelligen Bereich. Wir fahren also doppelt mehrgleisig.

Was bedeutet heute Innovation im Design?
Über Innovation zu sprechen, bedeutet mehr, als sich mit Formen zu beschäftigen. Eine neue Form zu erfinden, ist heute nicht mehr so einfach. Die schönsten Formen sind in den Fünfziger- und Sechzigerjahren erfunden worden. Doch heute arbeiten wir mit neuen Materialien, neuen Technologien und neuen Verarbeitungssystemen. Es geht im Design um Bewusstsein. Nachhaltigkeit ist heute eine umfassende Herangehensweise geworden, die den gesamten Prozess erfasst. Ein anderer Aspekt ist, dass wir die Veränderungen bei den Endverbrauchern besser verstehen müssen. Das bedeutet zum Beispiel, stärker auf die Größe der Produkte zu achten. Viele junge Kunden lieben Design. Doch sie wollen im Zentrum von Mumbai, Mailand oder Berlin wohnen – und haben nicht 400 Quadratmeter große Wohnungen, sondern müssen mit 80 oder 100 Quadratmetern auskommen.

Also Schluss mit endlos langen Sofalandschaften?
Wenn man die Proportionen in die Länge streckt, sieht alles automatisch gut aus. Die Motivation dahinter ist verständlich. Doch wir müssen mehr an den realen Größenmaßstäben der Produkte arbeiten. Und das bedeutet, nicht einfach nur ein bestehendes Produkt kleiner zu machen, weil das häufig unförmig wirkt. Produkte für kompaktere Grundrisse muss man von Anfang an für kleinere Größenverhältnisse konzipieren.

Worauf kommt es heute noch an?
Produkte müssen flexibler sein. Zum einem ist es wichtig, dass man sie im Wohnzimmer, im Schlafzimmer und anderen Bereichen des Hauses nutzen kann. Gleichzeitig wollen die Verbraucher Produkte von verschiedenen Designern, Herstellern und Herstellungsjahren mischen. An diese Freiheit müssen wir bei der Entwicklung eines Produktes denken. Es muss mit anderen Produkten zusammenpassen und sich zugleich in unterschiedliche architektonische Umgebungen einfügen. Das sorgt für einen großen Wandel in der Erscheinung, weil die Dinge nicht mehr ganz so dominant in ihrem Auftreten sein können. Dennoch dürfen wir die Schönheit nicht verlieren. Oder wie Achille Castiglioni sagte: Produkte müssen die Menschen zum Träumen und Lächeln bringen.

 

Sie haben im Jahr 2000 zum ersten Mal das Superstudio Più in Mailand für eine große Präsentation mit legendärer Party genutzt. Viele Firmen haben zu diesem Zeitpunkt nur auf dem Messegelände ausgestellt. Was war die Idee dahinter, das Design in die Stadt zu holen?
Wir haben zu einer Zeit mit dem Superstudio Più in der Via Tortona begonnen, als die meisten Mailänder Taxifahrer den Namen dieser Straße noch nicht kannten. Erst danach wurde es eine sehr beliebte Gegend und ein kreatives Labor für Design. Der Öffentlichkeit die Türen zu öffnen und Design auf eine andere Art und Weise zu kommunizieren, war sehr wichtig. Denn es war das Symbol einer Veränderung: von einem snobistischen Design zu einem demokratischeren Design. In der Eröffnungsnacht warteten 13.000 Menschen darauf, hineingelassen zu werden. Es war wirklich wie ein Rockkonzert. Und alle waren bei der Eröffnung: von Miuccia Prada und Giorgio Armani bis zu den jungen Studenten aus Nordeuropa, die das ganze Jahr gespart haben, um für drei Tage nach Mailand zu kommen. Design ist plötzlich zu einem sozialen Phänomen geworden. 

Anstelle von fertigen Produkten haben Sie eine Vielzahl an Prototypen gezeigt, von denen nur wenige tatsächlich in Produktion gingen. Die Messen und Events wurden zu Testfeldern für Produkte. Was hatten Sie mit dieser Strategie im Sinn?
Es stimmt, dass in dieser Zeit oft nur dreißig Prozent der Prototypen tatsächlich Produkte geworden sind. Wir haben viele Prototypen gezeigt, um die Reaktion der Leute zu testen auf Dinge, die sehr stark und sehr avantgardistisch waren. Es war im Grunde eine Form der Kommunikation. Heute arbeiten wir auf eine andere Weise. Dass wir im Jahr 2000 über dreißig Produkte gezeigt haben und heute zehn, bedeutet nicht, dass die Kreativität außen vor bleiben muss. Wir schauen nur in einer anderen Weise auf den Markt.

Inwiefern?
Heute testen wir die Produkte mit unseren internen Teams in den einzelnen Ländern. Die Entwicklungskosten sind sehr hoch. Wir investieren viel in Materialien und Spritzgussformen. Den Sessel Lud’o von Patricia Urquiola haben wir zwei Jahre lang getestet, bevor wir ihn vorgestellt haben. Der Endverbraucher ist heute reifer. Ein Sessel muss nicht nur schön, sondern auch komfortabel und robust sein, vor allem wenn man ihn für die Hotellerie oder Büros einsetzt.

Wie wird sich Design in den nächsten 20 Jahren weiterentwickeln?
Manchmal sagen die Leute, dass bereits alles im Design gemacht wurde. Das stimmt absolut nicht, es gibt immer noch tausende schöne Dinge zu entwerfen. Für die nahe Zukunft hoffe ich, dass wir mit diesem Lifestyle aufhören und zu richtigem Design zurückkehren. Schluss mit Messing, Seide, Samt und pinken Tönen. Das Ziel eines Designunternehmens ist es, schöne und nützliche Produkte zu fertigen. Es geht um das, was man die zeitgenössischen Klassiker nennt. Jasper Morrison und viele andere Gestalter sind bereit, diese neuen Klassiker zu entwerfen. Darin liegt die Zukunft des Designs.

Dieser Artikel ist Teil des Dossiers: 2000-2020: 20 Jahre Interior & Design

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