Die Querdenkerin
Rising Star 2000: Jeannette Altherr
Anfang der Neunzigerjahre wagte Jeannette Altherr den Schritt in die Selbstständigkeit und gründete das Studio Lievore Altherr Molina (LAM) in Barcelona, das sich 2020 zum Büro Lievore + Altherr Désile Park weiterentwickelt hat. Die Entwürfe der deutschstämmigen Designerin sind geprägt von Dauerhaftigkeit, Präzision und einer unkomplizierten Leichtigkeit.
Der Beginn war alles andere als einfach: Bereits in den ersten Jahren durchlebte das Studio eine Krise, denn mit Spaniens Wirtschaft ging es Ende der Neunzigerjahre zügig bergab. Doch mit dem Stuhl Catifa für den italienischen Hersteller Arper schaffte Jeannette Altherr im Jahre 2000 den Schritt auf die große Bühne des internationalen Produktdesigns – zu dessen wichtigsten Protagonisten sie nun gehört.
Welche Treiber hatten in den letzten 20 Jahren den größten Einfluss auf die Interieur- und Produktgestaltung?
Meiner Meinung nach hatten vier Themen einen ganz besonders starken Einfluss auf die Gesellschaft: Globalisierung, Digitalisierung, Individualisierung und Diversität. Im Grunde würde ich sogar sagen, dass Komplexität und die Auflösung von Grenzen die letzten 20 Jahre am stärksten geprägt haben – mit ganz unterschiedlichen Konsequenzen für unsere Branche.
Könnten Sie bitte ein wenig ins Detail gehen?
Nehmen wir zum Beispiel die Globalisierung. Zur Jahrhundertwende entwarfen wir zunehmend für Märkte, die wir im Grunde kaum kannten – wie den asiatischen oder den amerikanischen Markt. Man kollaborierte mit Menschen, die man zuvor nicht getroffen hatte. Das alles führte dann häufig zu der Frage, ob das, was unser Studio entwarf, nun spanisches Design sei. Wenn ein Argentinier mit italienischen Wurzeln, ein Katalane, eine Deutsche von der französischen Grenze in Spanien für italienische Kunden entwirft – ja, was ist das dann für ein Design? (lacht) Die Identität innerhalb der Globalisierung ist durch die Auflösung von nationalen Grenzen ein wichtiges Thema geworden. Wichtig sind aber auch die Auflösung der Grenzen zwischen Arbeit und Alltag oder In- und Outdoor sowie Genderfragen und die Verantwortlichkeiten in beispielsweise Umweltfragen.
Wie hat die Digitalisierung Ihre Entwürfe beeinflusst?
Man hat sich die schnelle Entwicklung der Kommunikationstechnologien kritiklos einverleibt. Gerade im Jahre 2000 haben wir doch alle geglaubt, dass durch das Internet die Welt besser, gerechter, sozialer und freundlicher wird. Auch die Architektur wurde leichter, feiner, transparenter, ja sanfter – ich denke da beispielsweise an die Bauten von SANAA. Und in dieser Geisteshaltung ist 2000 der Stuhl Catifa für Arper auf die Welt gekommen.
Was unterschied den Stuhl denn damals von anderen?
Der Grund, warum Catifa so erfolgreich war, ist wohl seine Zielgruppe. Man muss sich die Designszene vor 20 Jahren einmal vorstellen: Ein paar wenige Stardesigner – fast ausschließlich natürlich männlich – dominierten den Markt mit ihren teilweise sehr egozentrischen Produkten. Nun aber drangen immer mehr Frauen in unterschiedliche Positionen des Designmarktes. So fand eine Studie in England heraus, dass in den großen Studios überwiegend junge Frauen das Interieurdesign verantworten. Diese fanden meist unveränderbare Raumsituationen vor, selbst der Fußbodenbelag war schon gegeben. Die Designerinnen konnten also im Grunde nur noch mit Farbe und Möbeln die kühlen Räume erwärmen. Daher haben wir für Catifa ein Farbkonzept entwickelt, bei dem alle Farben individuell kombinierbar sind. Catifa ist also ein System und eben keine Ikone.
Hat sich die Designszene verändert?
Seit dem Starsystem der Neunziger ist nun alles viel kollektiver geworden. Das sehe ich an den jüngeren Designern, die tendenziell mehr teilen und sich stärker vernetzen.
Mit welcher Haltung blicken Sie in die Zukunft?
Mit einer kritischen Zuversicht. Corona ist ein Testfall für viele Aspekte, die dringend in die Hand genommen werden müssen. Allen voran die Klimakrise. Deshalb ist die Nähe der Möbeldesignbranche zur Modeindustrie äußerst kritisch zu sehen. Sichtbar wird es immer in Mailand auf der Messe: Die Stände werden immer pharaonischer, kleine Unternehmen können sich kaum noch behaupten. In immer kürzeren Zyklen werden Neuheiten ausgespuckt und oftmals Produkte entwickelt, die nur einem kurzlebigen Trend folgen. Dabei braucht es bessere Produkte. Produkte, die wenig Ressourcen verbrauchen, nachhaltig und schadstofffrei produziert werden und die dauerhaft sind. Natürlich sitzt der Designer in der Zwickmühle, denn er lebt von den Royalties. Wird weniger gekauft, sinken entsprechend auch die Einnahmen. Aber das ist ja allgemein der systemische Knoten, der gelöst werden muss.