Menschen

Harry Allen

von Katharina Horstmann, 20.10.2010


Harry Allen interessieren Schlüsselfiguren und Archetypen im Design. Geboren 1964 in den USA, studiert er Industriedesign am Pratt Institute in New York. Nach seinem Abschluss arbeitet er zunächst als Verpackungsdesigner in der Kosmetikindustrie, bevor er sich 1993 mit einem eigenen Studio selbständig macht. Seitdem arbeitet Allen erfolgreich an der Schnittstelle zwischen Grafik-, Möbel- und Verpackungsdesign sowie Innenarchitektur. Neben Arbeiten für Kunden wie Habitat, Magis, Skitsch und Areaware entwirft er Innenarchitekturprojekte für Moss, Corian oder das Guggenheim Museum. Wir trafen Harry Allen in London und sprachen mit ihm über nachhaltige Lippenstiftverpackungen, Parfumflakons, die mit dem Hammer entstehen, und Schweine, die zu Objekten werden.

 
 
Herr Allen, während des London Design Festival 2010 wurde Home vorgestellt, ein modulares Bücherregal für den italienischen Hersteller Skitsch, das, wie der Name schon erahnen lässt, die Form eines Hauses hat. Wie kam es zu diesem Entwurf?
 
Die Ausgangsidee war die archaische Form eines Hauses, oder vielmehr die Skizze eines Hauses, wie ein Kind es zeichnet. Als ich es entworfen habe, ließ ich mich von den Arbeiten des englischen Künstlers Julien Opie inspirieren. Seine Werke sind sehr simplifiziert und stilisiert. Home ist einerseits ein ideales Möbel für ein Kinderzimmer, und andererseits hat es auch etwas Anspruchsvolles. Es lässt sich wie ein System flexibel zusammenstellen und kann überall eingesetzt werden. Ein weiterer Aspekt, den ich an dem Produkt mag, ist der Maßstab. Die Dinge, die in ihm aufbewahrt werden, finden eine Art Zuhause und bekommen einen ganz anderen, großen Maßstab.
 
Für Home haben Sie sich von der Skizze eines Hauses inspirieren lassen; für die Kollektion Reality für den amerikanischen Hersteller Areaware haben Sie Abdrücke von Händen, Schweinen oder auch Geschenkboxen genommen und daraus Objekte gemacht. Sie gestalten weniger neue Formen, sondern nutzen vielmehr schon existierende, die Sie außerhalb des eigentlichen Kontexts verwenden. Was machen diese Vorbilder so interessant für Sie?
 
Ich habe jahrelang schlichte Räume entworfen, simple Boxen, in die man Objekte stellen kann. Meiner Meinung nach ist der perfekte leere Raum, so sehr ich ihn auch schätze, langweilig. Er ist nur schön, wenn er zum Leben erweckt wird und man sich selbst einbringt. Das passiert durch Objekte, die etwas zu erzählen haben – wie Reality. Ironischerweise waren meine vorangegangenen Entwürfe eher simpel und funktional. Und dann begann ich mit den Abdruckarbeiten und wurde durch diese bekannt.
 
Können Sie darauf bitte näher eingehen?
 
Bei den Gussobjekten suche ich immer nach einem perfekten Vorbild, das man leicht versteht – wie Hände, Geschenkboxen oder Erdnüsse. Und diese werden dann ganz in Weiß oder ganz in Silber gestaltet. Es sind Archetypen oder einfach existierende Formen, die ich entleihe und die sofort wiedererkannt werden, auch wenn sie aus einem anderen Material bestehen. Beim Entwurf geht es weniger um den Entwurfsprozess, als viel mehr um das Suchen und Jagen nach dem richtigen Muster, etwas, das, wenn ein Abdruck von ihm gemacht wurde, die Essenz des Vorbilds enthält. Bei Home war es ein wenig anders, da das Vorbild eher einer Skizze gleicht. Es ist nicht so detailliert wie die anderen Arbeiten und dennoch eine Ikone oder der Archetyp eines Hauses, übersetzt in eine modernistische Sprache. Es verbindet beide Herangehensweisen: eine Art Donald-Judd- oder John-Pawson-Box, sprich die Simplifizierung eines Objektes kombiniert mit einer schon existierenden Form wie bei Reality.
 
Für die Spardose Bank in the Form of a Pig haben Sie für die Gussform den Abdruck eines echten Schweins genommen…
 
Das ist eine recht lustige Geschichte. Ich bat die Handwerker, mit denen ich zusammen arbeite, das für mich zu machen. Sie arbeiten im Norden des Bundesstaats New York, wo es viele Bauernhöfe gibt. Außerdem sind sie Jäger und so dachte ich, es wäre doch ein Leichtes für sie, ein Ferkel von einem Züchter zu holen, es zu erlegen und den Abdruck zu machen – und so schien es auch gewesen zu sein, so dachte ich zumindest am Anfang. Als das Produkt lanciert worden war, gab es jede Menge seltsame Reaktionen: Die einen fanden das Produkt originell und mochten es, die anderen, meist Tierschützer hassten es regelrecht.
 
… und warfen Ihnen Tierquälerei vor?
 
Anfangs hat mich das sehr gestört, auch weil die Kritik aus meinem direkten Umfeld kam. Irgendwann telefonierte ich wieder mit einem der Handwerker und erzählte ihm davon. Er lachte und sagte, dass das Schwein eines natürlichen Todes gestorben sei. Sie hätten damals zwar ein lebendiges Tier von einem Schweinezüchter bekommen, brachten es aber nicht übers Herz, es zu erledigen. Es war einfach zu niedlich. Als sie noch am Überlegen waren, wie sie sonst an einen Abdruck für den verrückten New Yorker Designer kommen konnten, rief der Schweinezüchter an und erklärte, er habe ein totes kleines Ferkel, das die Muttersau erstickt habe – etwas, was wohl häufiger unter Tieren vorkommt. Wenn mir heute noch jemand etwas vorzuwerfen hat, dann soll er das mit der Muttersau ausmachen [lacht].
 
Sie entwerfen nicht nur Möbel und Accessoires, sondern auch Verpackungen, insbesondere in der Kosmetikindustrie. Ein Beispiel ist der Erste-Hilfe-Kasten für Johnson & Johnson…
 
Auch hier hatte ich ein Muster vor Augen, ein sehr persönliches, das kaum jemand kennt: der Erste-Hilfe-Kasten meiner Kindheit. Ich sehe ihn noch genau vor mir: Er war aus weißem Kunststoff und hatte einen blauen Schriftzug und ein rotes Kreuz. Dennoch ging es bei dem Entwurf darum, eine bestehende Ikone – ein Verbandkasten ist schließlich eine – zu verbessern und eine entsprechende Form für dafür zu finden, und nicht darum – wie bei Reality –, eine Ikone als Form zu nutzen. Es ist ein klassisches Industriedesignprodukt. Ich habe den Kasten aufgestellt und den Griff in die Form integriert. So hat die Box eine einheitliche Gestalt erhalten und benötigt außerdem weniger Platz im Schrank.
 
Vor kurzem wurde der von Ihnen entworfene Flakon für Marc Jacobs’ Parfum Bang lanciert. Was hat es damit auf sich?
 
In New York ist die Verpackungsindustrie ein wichtiger Bestandteil der Designwelt. Die Möbelindustrie, wie es sie in Italien oder generell in Europa gibt, existiert hier so nicht. Daher bekam ich die ersten Jobs nach meinem Studium in der Kosmetikwelt, und auch heute arbeite ich noch viel in dem Bereich. Wie bei jedem neuen Entwurf, egal ob Möbel, Produkt oder Verpackung, suche ich nach der Essenz des Produktes. Bei Marc Jacobs war das einfach, der Name stand schon fest: „Bang“, und diesen habe ich versucht, physisch umzusetzen.
 
Wie setzt man so etwas um?
 
Ich habe mich vom Aufprall inspirieren lassen und nahm zwei Metallplatten, dazu einen Hammer mit einem rechteckigen Kopf und schlug auf das Metall: bang! Natürlich habe ich einige Modelle anfertigen müssen, bevor ich das entsprechende, perfekte Resultat fand. Als ich auf das Metall schlug, bogen sich beide Platten gemeinsam, vorne und hinten. Und genau diese Form diente uns als Vorlage. Wir haben sie in den Computer einscannt, und dann aus Metallplatten die Form gestaltet, die für die Produktion der gläsernen Flakons genutzt wird.
 
Im Jahr 2003 haben Sie für Aveda einen nachfüllbaren Lippenstiftbehälter entworfen, der später viele Designpreise gewonnen hat. Er besteht aus recyceltem Aluminium und einem neuen Material, das aus recycelten Kunstharz und Flachsfaser gewonnen wurde. Spielen Materialien bei Ihnen eine wichtige Rolle?
 

Ich habe immer schon mit Materialien gespielt. Einige von ihnen sind umweltfreundlich, doch was mich am meisten an ihnen interessiert, ist die Ästhetik. Das Briefing von Aveda, bei dem es um Nachhaltigkeit ging, war eine willkommene Aufgabe. Doch die eigentliche Herausforderung für einen Designer ist, Verpackungen neu zu denken. Oder zu sehen, ob man diese ganz vermeiden kann.
 
Vielen Dank für das Gespräch.
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www.harryallendesign.com

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