Menschen

Hella Jongerius

von Norman Kietzmann, 30.04.2012


Hella Jongerius bringt Industrie und Handwerk in Verbindung. Geboren 1963 im niederländischen De Meern, absolvierte sie eine Tischlerlehre und studierte anschließend an der Designakademie Eindhoven. Nach ihrem Abschluss 1993 wurde sie Mitglied des Designer-Kollektivs Droog in Amsterdam und gründete im selben Jahr ihr Designstudio Jongeriuslab in Rotterdam. Sie entwirft Stoffe für den New Yorker Mohair-Hersteller Maharam, Porzellan für Nymphenburg und Sitzmöbel für Vitra. 2008 eröffnete sie ein zweites Designstudio an der Berliner Kastanienallee. Wir trafen Hella Jongerius in Mailand und sprachen mit ihr über flüsternde Stoffe, digitalisierte Muster und alterslose Möbel. 



Frau Jongerius, auf der Mailänder Möbelmesse haben Sie nun eine neue Ausführung Ihres Sofas Polder für Vitra vorgestellt, das mit einem besonders weichen Bezug aus Mohair auf den Markt kommt. Was hat es damit auf sich?


Ich denke, dass es immer die Stoffe sind, die ein Sofa ausmachen – ganz gleich, welche Form es besitzt. Sie bilden die oberste Ebene, die dem Möbel seine gesamte Identität gibt. Mit Mohair arbeite ich seit über 20 Jahren, wenngleich diese Textilien eher in Amerika und weniger in Europa bekannt sind. Mit dieser Sofaedition und einigen neuen Kissen wollen wir diesen Teil meiner Arbeit stärker in den Mittelpunkt stellen. Denn es gibt nicht viele Designer, die professionelle Textildesigner sind und gleichzeitig Möbel entwerfen.

Warum wird das Sofa in einer limitierten Edition hergestellt?


Weil die Herstellung sehr teuer ist. Wenn ich an neuen Stoffen arbeite, möchte ich nicht nur ein neues Muster gestalten, sondern auch neue Technologien mit einbeziehen. Ein Sofa besteht immer aus verschiedenen Stoffschichten. Dabei werden zwei Arten von Filz direkt übereinander platziert und der obere Teil von ihnen abgeschnitten. Das ist technologisch sehr aufwändig. Wir haben drei Jahre gebraucht, eine Firma zu finden, die dazu in der Lage ist. Die Maschine, die sie verwenden, ist riesig, fast doppelt so groß wie ein LKW. Es war spannend, diesen Prozess zu entwickeln und die Grenzen des Machbaren ein wenig zu verschieben. Wir arbeiten im Moment auch an einer weiteren Ausführung, die etwas günstiger sein und die Stofflichkeit von Mohair für Möbel leichter verfügbar machen wird.

Inwieweit waren Sie in den Entwicklungsprozess involviert?


Ich gehe immer selbst zu den Webereien, um mir die Garne anzusehen und herauszufinden, was ich wie machen kann. Dabei entsteht ein sehr enger Kontakt mit den Handwerkern an den Maschinen. Der andere Teil ist die Arbeit mit den Textilingenieuren. Denn die Verarbeitung von Mohair erfordert enorm viel Rechenleistung. Im Grunde waren die ersten Textilmaschinen die ersten Computer, bei denen es um das Setzen einer Null oder eines Kreuzes ging. Wenn ich ein Muster im Kopf habe, gibt es tausende von Möglichkeiten an einer einzelnen Maschine. Das Spannende an Stoffen ist, dass sie einen handwerklichen Hintergrund haben und gleichzeitig eine sehr genaue Industrie sind. Es hat viel zu tun mit Zertifizierungen und einem enorm Perfektionismus. Es darf keine Fehler geben und keinen Schmutz von der Wolle, was nicht immer einfach ist. Stoffe haben diese beiden Seiten, was ich sehr mag.

Haben Sie bei der Entwicklung eines neuen Stoffs bereits seine Anwendung auf einem bestimmten Möbelstück im Kopf?

Nein, die Stoffe sind immer eine Entwicklung für sich allein. Natürlich weiß ich, wie groß ein bestimmtes Muster in der Möbelwelt sein muss. Bei Sesseln und Sofas zum Beispiel sollte ein Muster niemals dreißig Zentimeter überschreiten, da man ansonsten den Anfang oder das Ende nicht mehr sieht. Dieses Wissen lasse ich in die Entwicklung neuer Stoffe einfließen. Aber ich entwerfe sie ganz klar als ein Material, das nicht nur von mir, sondern auch von anderen genutzt werden kann.

Der Fokus auf die Qualitäten von Stoffen hat derzeit im Polsterbereich enorm zugenommen. Inwieweit bemerken Sie diese Entwicklung in ihrer Arbeit?

Nicht nur die Materialien, sondern ebenso die Accessoires spielen im Haus eine größere Rolle. Darum sieht man derzeit jede Menge Kissen, die man sich viel leichter kauft als ein neues Sofa. Auch können sie weit mehr Ausdruck haben als die Möbel. Vor allem bei Sofas sind die Leute zögerlich, sich etwas zu Modisches zu kaufen, das sie in zwei Jahren vielleicht nicht mehr ansehen möchten. Schließlich sind Polstermöbel sehr teuer, weil sie noch immer von Hand vernäht werden. Darum muss man mit den Garnen ruhiger arbeiten und die stofflichen Qualitäten eher flüstern, als mit einem grellen Muster hinaus zu posaunen.

Welchen Materialen geben Sie bei Sofabezügen den Vorzug: Wolle oder Baumwolle?

Wolle ist immer ein wichtiges Thema. Denn Baumwolle ist sehr schädlich in der Herstellung. Ihre Faser ist recht unrein und erzeugt beim Weben ständig kleine Spuren. Darum ist es sehr schwierig, eine wirklich saubere Baumwolle zu erhalten. Und wenn, dann nur mit dem Einsatz von sehr vielen Giften. Dennoch wird Baumwolle vor allem in südlichen Ländern neben Leder oft bestellt, weil sie beim Sitzen einen kühlenden Effekt erzeugt. Ich persönlich bevorzuge Wolle, egal ob in Natur oder als Mischgewebe mit Kunstfasern wie Viskose. Ihr Vorteil ist, dass sie verantwortungsvoller hergestellt wird und sich auch relativ leicht reinigen lässt.

Wie ist es mit Leinen?


Leinen ist nur bedingt für Möbel geeignet. Die Faser ist wie Baumwolle sehr dreckig und muss erst aufwändig gebleicht und anschließend gefärbt werden. Aber Leinen hat den Vorteil, dass es sehr schön altert. Ich habe selbst auch ein Leinensofa in meiner Wohnung, aber ich bin mir sicher, dass es die meisten Menschen nicht mögen würden. Die Spuren des Alters passen nicht zum Geschmack der breiten Masse. Denn die Konsumenten wollen nur Möbel, die genauso bleiben, wie sie sie gekauft haben. Sie verstehen das Altern nicht. Man sieht das auch bei den vielen auf alt getrimmten Teppichen, die gerade auf dem Markt sind. Ihre Alterungsspuren sind Fake, weil die Teppiche von Grund auf neu geknüpft wurden. Nur so können die Leute sie akzeptieren. Damit muss ich leben, denn ich arbeite ja nicht für mich allein. Auch wenn ich meine eigenen Vorlieben häufig als Ausgangspunkt für meine Entwürfe nehme, müssen die Stoffe zum Schluss auch verkauft werden.

Wie gehen Sie an die Auswahl der Farben heran?

Die Farben sind immer der letzte Schritt bei der Entwicklung neuer Stoffe, wenn sämtliche Tests abgeschlossen sind und die fertigen Muster vorliegen. Denn ist es sehr schwer, eine Farbe zu bestimmen, ohne zu wissen, mit welcher Webtechnik sich ein roter und grüner Faden genau kreuzen werden. Dabei kommt immer etwas anderes heraus, als man vorab gedacht hatte. Selbst für Experten ist es sehr schwer, vorhersagen, wie eine Farbe aussehen wird. Darum fertigen wir sehr viele Farbmuster an. Am Anfang schaue ich mir 50 oder 60 verschiedene Farben an, aus denen ich 15 bis 20 aussuche. Dann nehme ich an ihnen Korrekturen vor und lasse wieder 50 bis 60 verschiedene Varianten anfertigen. Aus diesen suche ich dann wiederum acht oder zehn Farben aus – je nachdem, wie groß die Kollektion sein soll.

Welche Farben haben dabei besonderen Vorrang?

Es muss immer ein Braun geben, ein Rot, ein Grün sowie einen hellen Ton wie Weiß, Creme oder Hellgrau. Sie sind das kommerzielle Muss. Im Anschluss kann man einige expressivere Töne hinzufügen, um eine Kollektion in eine bestimmte Richtung zu vertiefen. Im Grunde gibt es unendlich viele Möglichkeiten. Doch in den Fabriken bekommt man häufig eine Auswahl von vielleicht einhundert Farben, aus denen man eine Kollektion bauen muss. Indem die Garne beim Weben miteinander gemischt werden, lassen sich aus diesen einhundert Garnen hunderttausende verschiedener Farben erzeugen. Beginnt man, die Garne selbst zu färben, entstehen noch mehr Varianten.

Die Qualität von Farben liegt in ihren Nuancen. Wie treffen Sie die Entscheidung über den richtigen Grau- oder Rotton?

Wenn man zum Beispiel bei einem Stoff mit Blumenmuster möchte, dass nicht allzu viel Garten darin zu sehen ist, verwendet man einen hohen Grauanteil. Wenn man den Garten dagegen betonen möchte, verwendet man ein härteres Grün. Es geht darum, die Farbe und das Konzept des Musters in Beziehung zu setzen.

Farben sind auf unmittelbare Weise an Trends gebunden. Lassen Sie sich von ihnen beeinflussen oder versuchen gar, Trends vorwegzunehmen?

Nein, niemals. Ich habe ich über die Jahre gelernt, Farben auf eine zeitlose Weise zu bestimmen, sodass man ihrer nicht vorschnell überdrüssig wird. Wenn ich mir eine Farbe anschaue, weiß ich, ob sie richtig oder falsch ist. Das ist kein hartes Wissen, sondern hat viel mit Intuition, Geschmack und eigener Erfahrung zu tun. Denn die Auswahl einer Farbe ist immer an ihre Anwendung geknüpft. Wird sie im Zuhause oder im Büro verwendet? Kommt sie auf einem harten oder weichen Material zum Einsatz? Schließlich reflektiert eine glänzende Oberfläche einen Farbton ganz anders als eine matte Oberfläche. Es ist ein sehr weites Feld, das man beachten muss.

Bei ihren Polsterentwürfen neigen Sie häufig dazu, verschiedene Stoffe und Farben miteinander zu kombinieren, anstatt einer einzelnen den Vorrang zu geben. Warum?


Ich bin nicht sehr gut darin, mich für eine einzelne Farbe oder einen einzelnen Stoff zu entscheiden. Oft werde ich gefragt, ob ich eine Lieblingsfarbe habe. Aber das kann ich nicht sagen, denn Farben existieren nie allein. Sie sind immer in die Palette ihrer unmittelbaren Umgebung eingebunden. Dasselbe gilt für die Struktur der Stoffe, die stets in Kombination mit anderen Materialien auftreten. Worum es geht, ist das richtige Zusammenspiel.

Vielen Dank für das Gespräch.



Weitere Produkte, Entdeckungen und Ausstellungs-Highlights des Salone del Mobile 2012 in unserem Special.

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