Michael Englisch
In ist, wer drin sitzt: Wilkhahns Chefdesigner über eine neue Philosophie des Sitzens.
Vor gut sechs Jahren erweckte Michael Englisch als Chefgestalter von Wiege, einem von Wilkhahn initiierten Designbüro, den Bürostuhl ON zum Leben und setzte damit den Grundstein für eine kleine Sitzrevolution am Arbeitsplatz. Mittlerweile ist er zum Mutterunternehmen gewechselt und dort für Designmanagement und Produktentwicklung verantwortlich. Mit dem Stuhl IN hat er jetzt einen äußerst sportlichen Bruder des ON auf den Weg gebracht. Wir sprachen mit Michael Englisch über die 3-D-Kinematik Trimension, die Emotionalisierung von Design und wie sich seine Sicht auf Gestaltung verändert hat.
Herr Englisch, als wir Sie das letzte Mal sprachen, hatten Sie gerade ON für Wilkhahn fertig entwickelt: Ist die Geschichte um den Wilkhahn-Drehstuhl danach so verlaufen, wie Sie sich das vorgestellt haben?
Eindeutig ja. Wir waren damals optimistisch, dass der ON erfolgreich sein wird. Dennoch bleibt in der Startphase eine Unsicherheit, wenn ein Produkt mit völlig neuartiger Technologie in einen Markt gebracht wird, der eher langsam und konservativ tickt. Erstaunlich ist, dass wir zu einem sehr frühen Zeitpunkt, nämlich vor rund zehn Jahren, eine Entwicklung prognostiziert hatten, deren enorme Bedeutung jetzt in der breiten Öffentlichkeit angekommen ist. Es wurde zu keinem Zeitpunkt so sehr über Gesundheit, Sitzen und Bewegung im Büro diskutiert, wie es aktuell der Fall ist. ON und natürlich auch der neue IN sind genau die richtigen Produkte zur richtigen Zeit.
Welchen Einfluss hatte ON auf die Welt des Bürositzens?
Mit der Idee der Trimension haben wir ein anderes Verständnis des Sitzens entwickelt. Wir haben erstmalig das Diktat des ergonomisch „richtigen“ Sitzens geknackt. Weg von der starren Haltungsorientierung hin zum dynamischen 3D-Sitzen mit der Trimension. Mit dieser Botschaft haben wir eine völlig neue Philosophie des Sitzens in das Büro gebracht, die nun nicht zufällig von vielen Wettbewerbern nachgeahmt wird, wenn auch mit sehr unterschiedlichen Ergebnissen…
Hatte ON auch einen Einfluss auf die Entwicklung von wiege? Der Stuhl hatte schließlich die Auswirkung einer kleinen Revolution für die Bürowelt.
ON wurde ja bereits in engster Kooperation mit dem Wilkhahn-Engineering entwickelt. Das ist bei solchen Innovationen auch gar nicht anders möglich. Dieser Logik folgend habe ich dann zunächst die Leitung des Designmanagements und dann der gesamten Wilkhahn-Produktentwicklung übernommen. Insofern war eher mein Weggang von wiege verbunden mit meinem Einstieg in das Wilkhahn Designmanagement im Jahre 2011 entscheidend. Der Wechsel von der Tochter zur Mutter…
Jetzt gibt es den IN: Was unterscheidet ihn vom ON?
IN hat ein sehr dynamisches Erscheinungsbild, er ist deutlich kompakter und als Modell ausgelegt, das für nahezu jeden funktioniert. Damit ist er ein typischer Projektbürostuhl, während ON mit seinen großzügigen Dimensionen und der differenzierten Programmfamilie höher positioniert ist. IN setzt das Moment der Bewegung noch stärker in einer neuen, dynamischen Gestaltung um. ON erscheint eher klassisch-modern für eine im besten Sinne konservative Klientel. Mit IN kann eine deutlich breitere Zielgruppe als bisher die Gesundheits- und Leistungsvorteile der Trimension nutzen.
Der Stuhl wirkt sehr sportlich: Welche Idee steckt hinter der Gestaltung?
Die Kernidee war natürlich, die Dynamik und damit die Trimension sichtbar zu machen. Der Stuhl soll neugierig machen und zum Ausprobieren animieren, weil sich erst beim Sitzen das Erlebnis der Trimension offenbart. Wird diese Qualität erlebt, kommt es unmittelbar zur Identifikation mit dem Bürostuhl.
Auch hier kommt die 3-D-Kinematik Trimension zum Einsatz: Wurde die Technik in den letzten Jahren weiterentwickelt?
Es war eine zentrale Herausforderung, die Technik ohne Funktionseinbuße zu vereinfachen und damit die Stückliste zu reduzieren, um mit diesen Kostenvorteilen im mittleren Marktsegment angreifen zu können. Durch die direkte Kraftübertragung ist es uns gleichzeitig gelungen, die Mechanik noch etwas dynamischer auszulegen. Der Stuhl reagiert auf kleinste Gewichtsverlagerungen und bringt seinen Besitzer dadurch fast automatisch in dreidimensionale Bewegungen, die als äußerst komfortabel empfunden werden. Allen Büroarbeitern, die viel Zeit auf ihrem Bürostuhl verbringen, ermöglicht IN mehr Aktivierung, Konzentration und Entspannung.
Der Name ON spielte auf das Einschalten eines Spielgeräts an: Für was steht nun das IN?
Auch dieser Name verweist auf zentrale Produkteigenschaften: Beim IN sitzen Sie im Wortsinne „in“ einem Stuhl, der Sie aufnimmt, der Sie stützt und der Ihnen wie eine zweite Haut folgt. Und IN ist natürlich auch „in“, also auf der Höhe der Zeit. Nicht nur die Funktion, auch die Gestaltung ist modern und vermittelt Komfort und Dynamik. Und sie lässt sich wie ein exzellenter Sportschuh skalieren: von zurückhaltend-homogen über wertig-elegant bis hin zu expressiv-sportlich. Das Produkt ist in der Erscheinung etwas emotionaler und verstärkt dadurch die Identifikation des Nutzers mit dem Produkt.
Sie sind inzwischen Chef der Produktentwicklung bei Wilkhahn: Wie haben sich Ihre Arbeitsschwerpunkte und Inhalte geändert?
Bei ON war ich selbst in der Rolle des Designers. Das ist heute anders: Ich verantworte die Bereiche Designmanagement, Produktentwicklung und Produktvorentwicklung im Sinne der Unternehmensentwicklung von Wilkhahn. Das bedeutet natürlich sehr viel Management und weniger operative Tätigkeit. Es geht viel stärker um mittel- und langfristige Ziele in Design und Produktentwicklung und es geht natürlich um Führung. Im täglichen Umsetzen gilt es darauf zu achten, dass die Ziele eingehalten werden. Ich gebe meinen Mitarbeitern maximale Freiheit bei der Lösung der Aufgaben – die Performance muss natürlich stimmen. Wenn alle Spaß und Freude haben, kommen wir gut voran.
Hat sich Ihr Designverständnis im Verlauf Ihrer Karriere geändert?
Ja, das hat es. Ich begrüße es sehr, dass das Design deutlich emotionaler und lebendiger geworden ist. Das ist nicht zu verwechseln mit Beliebigkeit oder Rummelplatzästhetik. Aber die Deklination geometrischer Grundformen war in Teilen doch sehr reduziert, wenn auch nicht immer so gemeint. Manchmal war dann das Weniger nicht mehr, sondern eben schlicht tatsächlich weniger. Insbesondere bei körpernahen Einsätzen funktioniert eine anorganische Geometrie ohnehin nicht. Ich mag hochintegrative Designkonzepte, die unterschiedliche Funktionen und Formen harmonisch miteinander vereinen und dadurch Komplexität reduzieren. Die Regeln für gutes Design bleiben erhalten und sind weiter im Code unserer Produkte. Qualität ist immer ein Erlebnis, kein Zustand.
An welchen Projekten arbeiten Sie zurzeit?
Ich arbeite an unterschiedlichen Projekten im Bereich Sitzen und im Bereich Konferenz. Wir entwickeln neue Mechanikkonzepte. Zudem kümmere ich mich auch um Showrooms, Messen und Ausstellungen. Ich bin verantwortlich für die Portfolioplanung und ich entwickle natürlich auch die Briefings für unsere internen und externen Designer. Neben der Gestaltung von Produkten beschäftige ich mich intensiv mit der Gestaltung von Prozessen. So war ich in den vergangenen Wochen auch involviert in die Markteinführung des IN, national und international. Die Begeisterung unserer Gäste für den IN bei den Einführungsevents war für mich und mein Team ein sehr großes Lob.