Paola Antonelli: Design ist Politik
Die Kuratorin der XXII. Mailänder Triennale über Design als Politik

Für Paola Antonelli ist Gestaltung weit mehr als das Zusammenspiel aus Form und Funktion. Seit 2007 ist die gebürtige Sardin Chefkuratorin für Design und Architektur am Museum of Modern Art in New York und legt den Fokus auf soziale und wissenschaftliche Schnittstellen. Wir trafen Paola Antonelli in Mailand und sprachen mit ihr über wechselnde Perspektiven, beständige Hoffnung und steigende Verantwortung.
Broken Nature lautet der Titel der XXII. Mailänder Triennale, die von Ihnen kuratiert wurde und noch bis zum 1. September 2019 zu sehen ist. Warum ist die Natur für Sie kaputt? Ich mag Titel, die nicht unbedingt wortwörtlich zu verstehen sind. Sie sollen Aufmerksamkeit erregen und die Menschen kurz zum Innehalten bringen. Doch tatsächlich sind einige Aspekte in unserer Beziehung mit der Natur zerrüttet. Daher entstand die Idee, das Design zu benutzen, um diese Verbindung wiederherzustellen.
Der Untertitel lautet Design Takes On Human Survival. Hilft uns die Natur, zu überleben oder helfen wir der Natur, zu überleben? Wir sind ein Teil der Natur. Wenn die Natur überlebt, überleben auch wir. Dahinter steht allerdings ein großer Paradigmenwechsel. In der Vergangenheit dachten wir, dass es uns und die Natur gibt. Die Wahrheit ist aber, dass alles eins ist. Wenn man das erkannt hat, begreift man auch, dass die eigenen Interessen und die Interessen der Natur identisch sind.
Kann Design die Welt verbessern? Ich mag die Vorstellung, dass Design ein Symbol für den Fortschritt ist. Wenn wir etwas Positives machen, führt es uns zu einer positiven Entwicklung und umgedreht. Wir können Design wirklich dazu nutzen, unsere Energie und Ideen für eine bessere Welt einzusetzen. Design funktioniert nicht ohne uns: Wir Menschen arbeiten damit. Es ist ein starkes Werkzeug, das wir dazu benutzen können, den richtigen Weg einzuschlagen.
Der Ausstellung ging eine intensive Recherche voraus. Was haben Sie herausgefunden, das Sie nicht erwartet haben? Es stimmt, dass es auch für uns Kuratoren eine enorme Lernkurve gab. (lacht) Am Anfang sollte es vor allem um die menschliche Spezies gehen. Doch plötzlich wirkte diese Herangehensweise sehr selbstreferentiell. Also haben wir alternative Wege und Perspektiven gesucht. Ein Thema sind beispielsweise invasive Pflanzenarten, denen wir einen eigenen Abschnitt in der Ausstellung widmen. Die Lotusblume etwa ist von Wissenschaftlern Mitte des 18. Jahrhunderts nach Mantua in Italien eingeführt worden. Sie wollten damit mehr Nahrung zu produzieren, doch stattdessen hat sie andere Arten in der Gegend von Mantua verdrängt.
Die Lotusblume gilt heute als eine Besonderheit der Region. Ja, aber im Grunde vernichtet sie dort das ganze Ökosystem. Die interessante Frage ist, wie wir mit einem solchen Fehler umgehen. Versuchen wir ihn zu korrigieren? Warten wir ab, auch wenn es zu einem irreparablen Ergebnis führt? Viele dieser Fragen werden in der Ausstellung gestellt – und natürlich nicht beantwortet. Aber wir wollen den Besuchern helfen, die richtigen Fragen zu stellen. Fragen, über die sie vielleicht noch gar nicht nachgedacht haben. Ich hoffe, dass die Menschen stärker reflektieren, wie sie verantwortlicher und nachhaltiger sein können. Das hoffe ich wirklich!
Es geht darum, den Blickwinkel zu erweitern. Sehr viel in dieser Ausstellung dreht sich um unsere eigenen Grenzen. Ganz am Ende des Rundgangs gibt es einen Leseraum mit vielen Texten. Einer meiner Lieblingstexte ist „Flächenland“ von Edwin Abbott Abbott, den er Ende des 19. Jahrhunderts verfasst hat. Darin kommen Wesen vor, die entweder ein- oder zweidimensional sind und daher nicht wissen, dass es eine dritte Dimension gibt. Es geht um die Erkenntnis, dass viel mehr existiert, als das, was wir aufgrund unserer physischen Begrenzungen wahrnehmen. Ich finde das unglaublich inspirierend. Es ist ein Aufruf, sich unbekannte Dinge vorzustellen. Unsere Perspektive ist die Hoffnung.
Sollte es nicht ein Gütezeichen für nachhaltige Produkte geben? Ich war Teil des World Economic Forum in Davos. Und ich erinnere mich, dass wir in einer Studiengruppe saßen und ein Produktlabel entwickeln wollten, das den ökologischen Fingerabdruck oder die ethische Verantwortung abbildet. Es ist unmöglich, denn dafür müssten alle Regierungen der Welt zustimmen. Einige Regierungen wollen noch nicht einmal Teil des Pariser Klimaabkommens sein. Wie sollte man sie dazu bringen, solchen Standards zuzustimmen? Aber wenn es gelingen würde, wäre das großartig! Für mich sollte dieses Label nicht nur Materialien und Herstellungsprozesse analysieren. Für mich geht es vor allem um Ethik.
Design erreicht also immer eine politische Ebene? Oh ja, Design ist Politik. Es geht schließlich um das Leben in der Welt.
Wie können Politiker stärker für diese Themen sensibilisiert werden? Indem man sie dazu zwingt. Um mit Politikern umzugehen, gibt es zwei Wege: Stimmen und Bürger. Eigentlich ist es dasselbe, weil jeder Bürger eine Stimme hat. Doch unglücklicherweise gibt es aufgrund eines Wahlsystems wie in den Vereinigten Staaten manchmal eine Diskrepanz. Die Bürger haben nicht alle Macht, doch sie sind eine enorm wirksame Kraft. Genau darum geht es bei dieser Ausstellung. Die Leute sollen Dinge auf einer tieferen Ebene verstehen und ihre Stärken nutzen. Das kann die öffentliche Meinung sein und manchmal auch ganz einfach die Kaufkraft, wenn bestimmte Produkte boykottiert oder gestärkt werden. Ich hoffe, dass die Menschen Aktivisten werden!
Vielen Dank für das Gespräch.
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