Menschen

Philippe Starck

Design als Archäologie: Der Pariser Designer im Gespräch.

von Norman Kietzmann, 19.04.2016

Philippe Starck ist das Chamäleon des Designs. Noch immer beherrscht der 67-Jährige den großen Auftritt ebenso wie die leisen, fast unhörbaren Töne. Das Design ist für den umtriebigen Franzosen noch lange nicht am Ziel angelangt. Im Gegenteil: Es gewinnt mit Ausflügen in Richtung Archäologie erst richtig an Fahrt. Ein Gespräch über Zeitlosigkeit, Retrokitsch und das Ende der Avantgarde.

Monsieur Starck, wohin man auf dem diesjährigen Salone del Mobile auch tritt, wir sind geradezu umzingelt von Entwürfen, die vor allem eines wollen: Zeitlosigkeit suggerieren. Warum ist das so?
Zeitlosigkeit ist der avantgardistischste Begriff, der heute existiert. Die Avantgarde ist keine Avantgarde mehr, weil auch sie eines Tages veraltet sein wird. Darum brauchen wir keine Avantgarde mehr. Wir brauchen das Zeitlose. Um das zu erreichen, müssen wir die Recherche so weit wie möglich in die Vergangenheit und die Zukunft ausweiten. So entsteht die gehaltvollste Synthese für die Gegenwart. Das Zeitlose garantiert eine lange Lebensdauer. Und die ist wichtig für die Ökologie. Wir können nicht ständig alles wegwerfen. Also müssen wir dafür sorgen, dass die Dinge lange halten: auf materieller, kultureller und gefühlsmäßiger Ebene. Das bedeutet Zeitlosigkeit.  

Doch ist Zeitlosigkeit nicht auch ein Produkt unserer heutigen Zeit? Was passiert, wenn wir auf die vermeintlich zeitlosen Dinge von heute in zehn, zwanzig Jahren schauen?
Alles wird zeitlos sein! Zeitlosigkeit bedeutet ja keine Stagnation oder das Festhalten an der Vergangenheit. Auf keinen Fall. Es geht darum, etwas zu produzieren, das auch in Zukunft zeitlos sein wird (lacht). Das macht es ja so schwierig. Wenn man nicht aufpasst, ist das Zeitlose dennoch modisch. Und schon hat man verloren.

Sie meinen, so wie Retro?
Retro ist modischer Konsum. Wenn Sie auf dem Flohmarkt etwas Altes kaufen, ist das ökologisch korrekt. Wenn Sie etwas Neues im Retro-Stil produzieren, ist das lächerlich. Denn wir kehren damit zu etwas zurück, das wir schon überwunden haben. Die Folge ist, dass diese Retro-Dinge auch schnell überwunden werden. Sie sind nicht mehr als der Versuch, ein Stück Ewigkeit zu klauen. 

Dem Thema Zeitlosigkeit haben Sie sich in diesem Jahr auf doppeltem Wege angenähert, mit ihrer Stuhlfamilie Generic A und Generic C für Kartell. Was macht diese Entwürfe aus?
Sie spielen beide mit der Anonymität. Es gibt tausende verschiedener Stühle, die von niemandem entworfen wurden und dennoch von allen Menschen benutzt werden. Das Thema des Generischen habe ich schon bei meinem Stuhl Louis Ghost aufgegriffen, bei dem ich die Seele eines klassischen europäischen Möbels gesucht habe. Nach einigen Jahren wollte ich zu diesen anonymen Stühlen zurückkehren, die ja nicht von mir geschaffen wurden, sondern von uns allen. Generic A ist ein Möbel, wie es in Schulen, Polizeiwachen und Finanzämtern zu finden ist. Generic C nimmt sich die Stühle auf den Terrassen der Kaffeehäuser zum Vorbild. Ich möchte daraus eine ganze Kollektion generischer Möbel machen, die in den nächsten Jahren ständig erweitert wird. 

Wenn nicht Sie, sondern wir alle diese Stühle entworfen haben: Worin liegt dann Ihr Anteil?
Ich habe diese Typologien gereinigt und gereinigt und gereinigt, bis es nichts mehr zu reinigen gab. So bin ich bei diesen beiden Stühlen angekommen, bei denen man nicht mehr und auch nicht weniger machen kann. Sie sind in einem perfekten Gleichgewicht und haben viel Esprit. Dieser Esprit ist sehr stark, weil wir alles drumherum entfernt haben und nur den Motor und nur die Karosserie behalten haben. 

Wie viel Charakter verträgt ein anonymes Möbelstück?
Es geht nicht um Charakter. Es geht darum, das Geheimnis und das Eigentümliche zu finden, das im Inneren liegt. Wenn Sie einem solchen Produkt Charakter geben wollen, sind Sie bereits auf dem falschen Weg. Denn Sie haben eine Absicht. Ich habe gar keine Absicht, außer die, das versteckte Geheimnis zu finden. 

Das klingt wie Archäologie.
Meine Arbeit ist pure Archäologie. Wenn man das Foto eines Archäologen sieht, ist er immer gerade beim Bürsten. Er nimmt einen Stein und legt vorsichtig Stück für Stück frei, was sich unter der Staubschicht verbirgt. Ich mache mit meiner Arbeit genau das Gleiche. Ich bürste und bürste und finde manchmal etwas Wahres (lacht). Dieses Design ist nicht à la mode. Es spricht nicht über die Zukunft. Es spricht nicht über die Gegenwart. Es spricht nicht über die Vergangenheit. Und doch es ist das Ergebnis aus allen dreien. Worum es geht, ist das Leben, die Geschichte, der Gebrauch. 
Worin liegt heute die Aufgabe des Designs?
Das Design ist nicht mehr nützlich, weil sich die Zeiten geändert haben. Es gibt heute andere Prioritäten auf politischer, wirtschaftlicher, ökologischer und gesellschaftlicher Ebene, auf der das Design nicht viel machen kann. In den letzten zwanzig Jahren hat das Design viele Fortschritte gemacht, um das Leben zu verbessern. Das ist richtig. Doch heute geht es nicht mehr darum, das Leben zu verbessern. Es geht darum, Leben zu retten. Das Design rettet aber keine Leben. Also leben wir in keinem Moment des Designs. Es ist der Moment derjenigen Menschen, die Lösungen haben, um Leben zu retten. Aber dazu gehören wir Designer nicht.  

Welchen Beitrag kann das Design dennoch leisten?
Indem wir die Dinge besser, günstiger, komfortabler, amüsanter und bewegender machen. Diese Verbesserungen sind das, was ich demokratisches Design nenne. Das ist eine Mission, die noch immer richtig ist und die ich auch noch eine Weile weiter verfolgen kann. Doch selbst wenn wir Designer unserer Bestes geben: unser Bestes wird niemanden vor Krankheiten, Naturkatastrophen, Radioaktivität oder Krieg beschützen. Das müssen wir akzeptieren. 

Sie haben in ihrer Karriere so gut wie alles entworfen. Gibt es dennoch etwas, das Sie gerne gestalten würden?
Mit einem materiellen Produkt gibt man immer eine schlechte Antwort auf eine immaterielle Frage. Alle Fragen sind immateriell. Und wir antworten auch untereinander nicht materiell. Ich würde gerne eines Tages auf eine immaterielle Frage mit einem immateriellen Design antworten können. Der Höhepunkt der Materialität war das 19. Jahrhundert. Das 20. Jahrhundert ist bereits teilweise in die Immaterialität umgeschlagen. Wollen wir weiter wie im 19. Jahrhundert leben? Nein. Hat sich das Design auf das dritte Jahrtausend umgestellt? Nein. Es gibt also noch einiges zu tun (lacht).

Vielen Dank für das Gespräch.

Mehr aus unserem Special zum Salone del Mobile 2016 finden Sie hier...

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