Menschen

Renate Müller

Von thüringischem Sonneberg nach New York: Ein Gespräch mit der Spielzeugdesignerin Renate Müller. 

von Norman Kietzmann , 01.09.2016

Renate Müller gehört zu den weltweit bekanntesten Spielzeugdesignerinnen. Einen Namen hat sich die gebürtige Thüringerin mit ihren phantasievollen Tierfiguren aus Rupfen gemacht, die vornehmlich für therapeutische Einrichtungen gestaltet wurden. Heute werden die Entwürfe nicht nur im MoMA und im Deutschen Spielzeugmuseum gezeigt. Sie erzielen auf Auktionen fünstellige Beträge und werden von der New Yorker Galerie R & Company als exklusive Designunikate gehandelt. Ein Gespräch über tierische Familienmitglieder, gemütliche Dickhäuter und authentische Produktion.
 
Frau Müller, was macht ein gutes Spielzeug für Sie aus?
Es sollte nicht zu vordergründig sein. Viel wichtiger ist, dass die Kinder es zunächst bemerken und darauf zugehen. Darum müssen sich Spielzeuge von anderen Objekten in der Umgebung abheben, sowohl in ihrer Form als auch von ihren Farben und Materialien. Kinder müssen in ihren Spielsachen immer wieder Neues entdecken können. Lässt es sich herumdrehen, wegschleppen oder darauf balancieren? Oder passt noch der kleine Bruder mit drauf? Ein weiterer Punkt ist die Ehrlichkeit: Wenn etwas schwer aussieht, muss es auch schwer sein. Doch das oberste Prinzip ist immer Multifunktionalität. 

Können Sie dafür ein Beispiel geben?
Ich habe einmal ein textiles Puppentheater gestaltet, das man vor eine Wand, in eine Tür oder im Garten an einen Ast hängen kann. Die Puppen habe ich jeweils in einer anderen Farbe eingefärbt und ihre Gesichtsform variiert. Die eine Puppe hat eine längere Nase, die andere hat ein breiteres Gesicht, die andere ein schmales Gesicht. Dazu habe ich viele Kleidungsstücke gemacht, sodass die Figuren nicht auf eine Rolle wie König, Großvater, Teufel oder Jäger festgelegt waren. Die Kinder konnten aus dem Großvater einen Kaspar machen oder ihm eine ganz andere Rolle geben. Auch konnten die Kinder eigenes Material hinzuaddieren, um das Spiel noch interaktiver und multifunktionaler zu machen. 

Die Gestaltung von Stofftieren wurde Ihnen in die Wiege gelegt. Ihre Eltern besaßen eine Spielzeugfabrik für Puppen und Plüschtiere in Sonneberg, dem einstigen Zentrum der deutschen Spielzeugindustrie. Einen Namen haben sie sich mit Ihren Rupfenfiguren gemacht, die heute zu begehrten Sammlerobjekten gehören. Was ist der Grund für den Erfolg der Stofftiere?
Vielleicht liegt es daran, dass die Tiere mit den Kindern mitwachsen. Kleinkinder halten sich an ihnen fest oder fühlen mit den Fingern die Nähte, Griffe oder Augen nach. Wenn die Kinder älter werden, können sie plötzlich auf die Tiere klettern, drüber hüpfen, mit ihnen Gymnastik machen oder Kunststücke vorführen. Und irgendwann gehen die Figuren mit in die Studentenbude, bis sie schließlich bei den eigenen Kindern landen. Ich bekomme immer wieder Spielzeuge zugeschickt, um sie für die nächste Generation zu restaurieren. Neulich schrieb jemand: „Unser Nilpferd Hildegard lächelt uns immer so schön an!“ Die Tiere bekommen Namen und sind Familienmitglieder. Das ist schon putzig.

Wie sind Sie mit Rupfen in Kontakt gekommen? Das Material wird normalerweise eher als Sackleinen verwendet.
Ich hatte meine Ausbildung zur Spielzeuggestalterin in den fünfziger Jahren an der Fachhochschule in Sonneberg bei Helene Häusler gemacht. Sie ist die Mutter des therapeutischen Spielzeugs in der DDR. Sie legte ein paar Zuckersäcke auf den Tisch gelegt und sagte: Mädels, macht was draus! Das war ungewöhnlich, weil in Sonneberg nur Tierfiguren aus Plüsch gefertigt wurden. Als ich mit meiner Ausbildung fertig war, ging Frau Häusler in den Ruhestand. Sie meinte zu mir: Probieren Sie doch einmal, die Arbeiten in Kleinserie herzustellen. Wir haben dann von einem Nashorn, einem Würfel und einer Ente die Rechte bei den Studentinnen erworben und sie in der Firma meines Vaters hergestellt. Begeistert war er nicht.

Warum?
Weil ich mich auf Puppen und Plüschtiere konzentrieren solle. Die Rupfenfiguren habe ich nebenbei gefertigt und 1967 auf der Leipziger Messe ausgestellt. Zu diesen drei Urviechern habe ich dann für jede Herbst- und Frühjahrsmesse zwei bis drei neue Tiere entwickelt. So ist die Kollektion bis 1972 auf ungefähr 40 Modelle gewachsen. In der Zwischenzeit sind auch einige Ärzte hellhörig geworden. Sie haben gesagt, dass sich die Figuren für Therapien mit Kindern eignen würden. Das war der nächste wichtige Schritt. Um ein Zertifikat als therapeutisch wertvolles Spielzeug zu erhalten, musste jedes Objekt ein halbes Jahr in drei verschiedenen Kliniken getestet werden. Nach der Erprobung haben sie mir Tipps gegeben: Der Griff könnte noch etwas kräftiger sein. Oder verändern Sie hier noch etwas. Erst dann erhielten die Arbeiten das Zertifikat und konnten auf der Messe gezeigt werden. Dieser geistige Hintergrund ist den Tieren vielleicht nicht anzusehen. Doch dahinter steht ein komplexer Prozess.

Viele Tiere aus Ihrer Werkstatt sind gemütliche Dickhäuter. Sind sie besonders gut für therapeutische Zwecke geeignet?
Das Jute-Material ist sehr steif und nur schwer zu verarbeiten. Es franst aus und muss unterfüttert werden. Darum sind kleingliedrige Tiere wie zum Beispiel eine Katze ausgeschlossen. Große, runde Formen hingegen sind besser geeignet – zumal sie auch bei den Kindern zu den gewünschten Bewegungsabläufen führen. Das Krokodil zum Beispiel funktioniert zum Balancieren und Darüberlaufen. Es ist wackelig, doch aufgrund der ausstehenden Füße kann es nicht umkippen. Wenn ich das Krokodil auf den Rücken lege, ist der Schaukeleffekt viel größer. Die Kinder können die Füße als Greifelemente nehmen und das Tier wegschleppen. An dem offenen Maul mit Holzzähnen sollen schüchterne und sensible Kinder die Scheu verlieren. Umgekehrt können hyperaktive Kinder mit dem Tier kämpfen. Es sind meist zwei Seiten der Medaille, die mit dem gleichen Objekt erfüllt werden sollen. Der ästhetische und taktile Anspruch sowie die therapeutische und spielerische Funktion. 
Dennoch ist Ihnen die Herstellung der Figuren später verboten worden. Warum?
Unser Betrieb ist 1972 verstaatlicht und in den VEB Sonni integriert worden. 1978 habe ich mich davon getrennt, weil mir verboten wurde, meine Rupfen-Kollektion weiter fortzusetzen. Das Material war unüblich, genau wie die Füllung mit Holzwolle und einem vom Schreiner gefertigten Holzgestell. Ich sollte stattdessen meine Figuren mit Schaumgummi ausstopfen, obwohl dies für meine Produkte überhaupt nicht gepasst hat. Weil Designer keine freiberufliche Zulassung in der DDR bekamen, musste ich Mitglied im Künstlerverband werden. Und so bin ich schließlich als Kunsthandwerkerin aufgenommen worden mit einer nebenberuflichen Zulassung als Designerin. An der Fachhochschule in Sonneberg habe ich später Spielzeuggestaltung unterrichtet und zahlreiche Spielplätze entworfen und umgesetzt. Nach der Wende habe ich mir die Rechte für mein enteignetes Spielzeug zurückgeholt und wieder mit der Produktion meiner Rupfentiere begonnen. 

Ihre Arbeiten werden heute für fünfstellige Beträge gehandelt. Mit der New Yorker Designgalerie R&Company haben Sie eine Exklusivvereinbarung abgeschlossen. Überrascht Sie das plötzliche Interesse?
Viele meiner Objekte haben eine Auszeichnung für ihr Design bekommen, darunter mehrfach die Goldmedaille der Leipziger Messe für Textil und Spielzeug. Doch in der DDR ging die Ehrung nur an das Unternehmen, während die Namen der Designer einfach unter den Tisch gefallen sind. Darum ist schön, dass nun die Anerkennung kommt. Dass meine Entwürfe nicht ausschließlich therapeutischen Zwecken dienen, schmerzt mich manchmal etwas. Doch auch ein Unikat in der Wohnung einer wohlhabenden Familie erfüllt seine Urfunktion, solange es gebraucht wird. Das ist für mich wichtig, selbst wenn es nicht mehr die Breitenwirkung des therapeutischen Spielzeugs erzielt. Oder vielleicht auch gar nicht mehr erzielen kann. Das gegenständliche Spielzeug hat heute nicht mehr dieselbe Bedeutung. Der Großteil der Spiele läuft auf virtueller Ebene. Das sehen wir bei unserem zwölfjährigen Enkelsohn. Darum werden auch meine Figuren eher als Kunstobjekte gesehen. 

Wie sehen Ihre nächsten Schritte aus?
Ich bereite gerade eine neue Soloausstellung vor, die 2018 bei R & Company in New York gezeigt wird. Auch möchte ich eine neue Monografie veröffentlichen. Mein erstes Buch zeigt die Arbeiten bis 1996. Die Kindergärten, Spielzeuge und Figuren, die seitdem entstanden sind, würde ich gerne mit hineinnehmen. Ebenso die Entwicklungsprozesse der Spielplätze. Eigentlich wollte ich schon im letzten Winter die alten Fotos heraussuchen, doch im Moment komme ich einfach nicht dazu. Vieles ist ja noch auf Dias festgehalten und muss gesichtet werden. Das passt kaum in ein Lebenswerk hinein. Ich will es dokumentieren, damit meine Enkelkinder einmal sagen: Die Oma war aber fleißig. (lacht)

Vielen Dank für das Gespräch. 

Mehr aus dem Designlines-Themenspecial Kinder lesen Sie hier.

 

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Renate Müller

Spielzeugdesign

www.renate-mueller-spielzeug.de

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