Menschen

Ron Gilad

von Norman Kietzmann, 04.10.2011


Ron Gilad zählt zu den Vorreitern des israelischen Designs. Geboren 1972 in Tel Aviv, studierte er Gestaltung an der Bezalel Academy of Art & Design in Jerusalem und erhielt von 1999 bis 2001 einen Lehrauftrag für plastisches Entwerfen an der Shenkar Academy of Engineering & Design im israelischen Ramat-Gan. 2001 zog er nach New York und gründete dort zusammen mit Lior Haramaty das Büro Designfenzider in Stadtteil Brooklyn, das seine Arbeiten zugleich produziert und vertreibt. Mit Vorliebe entwirft Gilad hybride Objekte, die oft mit surrealistischen Qualitäten die Grenzen der Funktionalität hinterfragen. Regale werden bei ihm zu menschlichen Torsi, Leuchter zu spinnenartigen Wesen und Tische zu miniaturisierten Architekturen. Seine Arbeiten werden nicht nur von den Herstellern Moooi und Flos vertrieben, sondern befinden sich auch in den ständigen Sammlungen des Metropolitan Museum of Art, dem Museum of Arts and Design in New York oder dem Tel Aviv Museum of Art. Wir trafen Ron Gilad in Mailand und sprachen mit ihm über virtuelle Nachbarn, injizierte Realitäten und wie ihn die New Yorker Polizei kurzerhand vor die Tür setzte.



Herr Gilad, für ihre Serien Spaces und Spaces Etc. haben Sie die Archetypen eines Wohnhauses – angefangen bei seinen Fenstern, Treppeneingängen, Ecken bis hin zu seinen Dachgiebeln – in miniaturisierte, aus Draht geformte Objekte übersetzt. Worin liegt für Sie die Grenze der Architektur?


Diese Miniaturen sind im Grunde das Gegenteil von Architektur, weil sie keinerlei schützende Funktion übernehmen. Viele Architekten schaffen heute zuerst Hüllen und füllen sie dann mit den Funktionen, um die es gehen soll. Das ist eine zeitgenössische Art, auf Architektur zu schauen. Ich habe versucht, die Elemente eines Hauses zu nehmen und mit ihnen zu spielen. Einen Teil dieser Arbeiten habe ich an 20 Freunde von mir auf der gesamten Welt verkauft. Ohne, dass sie sich je persönlich getroffen hätten, wurden sie auf diese Weise in einer virtuellen Nachbarschaft miteinander verbunden. Die experimentellen Architekturstrukturen repräsentieren insofern auch eine Art Zuhause für mich.

Was interessiert Sie als Produktdesigner an der Auseinandersetzung mit Architektur?

Ich bin in Israel zur Schule gegangen. Wir können dort schon in der High School einen Beruf aussuchen und uns darauf spezialisieren. Ich habe mich damals für Architektur entschieden. Doch an einem bestimmten Punkt merkte ich, dass ich nicht bis Mitte vierzig, fünfzig warten möchte, bis mein erster Entwurf lebendig wird. Also habe ich mich entschieden, den Maßstab zu reduzieren und ins Industriedesign zu gehen, auch wenn ich mich über Arbeiten wie Spaces langsam wieder Richtung Architektur begebe. Mein Interesse an Räumen hat vielleicht aber auch damit zu tun, dass ich nie einen für mich allein hatte. 

Was meinen Sie damit?

Ich bin jetzt 38 und muss mir meine Wohnung und mein Studio noch immer mieten, ohne sie zu besitzen (lacht). Vor drei Jahren wurde das Gebäude, in dem ich in New York wohne, von der Regierung geräumt, und ich war für drei Monate ohne Unterkunft. Der Grund war eine Bäckerei im Erdgeschoss, die nicht legal genehmigt war und angeblich eine Gefahr darstellte. Also kam die Feuerwehr und hat mitten in einer kalten Januarnacht die 200 Bewohner des Hauses aus ihren Wohnungen geworfen. Das ist vollkommen verrückt. So etwas kann nur in New York passieren. Das ganze Haus war voller Künstler, und wahrscheinlich dachten sie, dass sie es mit denen ja einfach machen könnten. Das war der Moment, an dem mich wieder das Interesse an den Behausungen packte.

An der Schnittstelle von Raum und Objekt bewegt sich auch Ihre Arbeit IX Mirrors, die Sie während der Mailänder Möbelmesse 2011 in der Galerie Dilmos präsentiert haben. Die Kollektion umfasst neun Spiegel mit beinahe surrealistischen Eingriffen. Was war die Idee hinter dieser Kollektion?


Es begann damit, dass ich von einem Sammler den Auftrag bekam, einen Spiegel zu entwerfen. Also fing ich an, über Realität nachzudenken. Denn sie ist es, die Spiegel in den Raum werfen. Mich interessierte die Frage, wie ich durch das Hinzufügen kleiner Details ein anderes Konzept in die Realität injizieren kann. Etwas, das hinter dem Vorhang liegt. Ich wollte diesen Spiegeln einen Stück Handarbeit oder, sagen wir, historische Zitate geben, die sie mit der italienischen Kultur verbinden. Also habe ich eine kleine Skulptur verwendet, die auf den Proportionen von Michelangelos David basiert. Ein anderer Spiegel spielt mit der Flüssigkeit, die auf die gläserne Materialität der Spiegel verweist und eine verborgene Welt sichtbar macht, die sich scheinbar auf der Rückseite der Spiegel befindet. Durch alte, schwere Rahmen aus Holz wurde dieser Eindruck noch gesteigert.

Wie bei Spaces haben Sie auch hier mit der Größe gespielt und miniaturisierte Türen eingefügt. Warum?

Ich denke, dass das Spiel mit der Größe eine gute Methode ist, um den Alltag zu hinterfragen. Denn ein miniaturisierter Gegenstand lässt uns automatisch größer erscheinen, während uns ein großer Gegenstand kleiner macht. Wir sind in unserem Alltag an bestimmte Größen gewohnt, die zur Größe unseres Körpers passen. Wenn dieser Zusammenhang aufgelöst wird, beginnen wir uns automatisch zu fragen, wozu ein Objekt da ist und welche Bewandtnis es hat.

Viele Ihrer Arbeiten kommen als Collage historischer Vorbilder daher wie Ihr bekannter Deckenleuchter Dear Ingo für Moooi, für den sie gewöhnliche Schreibtischleuchten zu einer eindrucksvollen Spinne verbunden haben. Ein weiteres Leuchtenprojekt ist ihre Leuchte Mini Teca Victorian Grandeur für Flos, bei der Sie historische Leuchtenschirme unter einem vitrinenartigen, gläsernen Kasten präsentiert haben. Was hat es mit diesem Projekt auf sich?

Die erste Idee reicht relativ weit zurück zu meinen Arbeiten vor ungefähr elf Jahren. Ich habe damals begonnen, mich stärker für die Repräsentation von Funktion zu interessieren anstatt sie auf direkte Weise zu erfüllen. Also habe ich einen weißen Sockel genommen und darauf vier kleine Leuchten gestellt. Sie funktionierten zwar allesamt noch als Leuchten, stellten aber gleichzeitig die Frage, ob es sich um Leuchten oder Skulpturen in Form von Leuchten handelte. Acht Jahre später machte ein Freund von mir eine Ausstellung und hatte im Anschluss einige Sockel übrig. Als er mich fragte, ob ich diese haben wolle, habe ich sofort zugesagt. Ich brachte sie in mein Studio und habe mit ihnen herumgespielt und verschiedene Dinge auf ihnen platziert. Einer dieser Gegenstände war eine alte Lampenfassung mit einem altbackenen Schirm, die ich mit einem gläsernen Kasten überdeckt habe ...

Und damit die heraushebende Wirkung des Sockels zusätzlich steigerte ...

Ja, auch wenn die Leuchten noch immer funktional sind, ergibt sich automatisch eine andere Wertschätzung dessen, was sich zugleich unter dem Glaskasten und auf einem Sockel befindet. Die Wirkung hat sich quasi multipliziert. Als Piero Gandini, der Präsident von Flos, in mein Studio kam und zwei dieser Leuchten sah, schlug er vor, daraus ein Projekt machen. Als ich ihm sagte, dass es sich um ein Art Piece handle und nicht für die Produktion geeignet sei, meinte er: „Nein, nein, wir kappen einfach den Sockel und stellen es direkt auf den Tisch.“ Also fingen wir an, darüber nachzudenken, welche Art von Leuchten in den gläsernen Kasten hinein solle. So entstand die Idee, ein historisches Archiv für etwas altmodische und dennoch ikonische Leuchten zu schaffen, das nach und nach erweitert wird. Im Moment sind es derzeit nur drei Formen, aber hoffentlich wird wir in jedem Jahr eine neue hinzukommen.

Wie funktioniert die Arbeit in Ihrem Büro?

Ich arbeite normalerweise nicht mit Deadlines oder direkten Aufträgen. In dieser Hinsicht bin ich sehr glücklich, weil ich mehr oder weniger machen kann, was ich möchte. Ich stehe jeden morgen um halb sieben auf und sitze bis spät in die Nacht an meinem Schreibtisch. Aber manchmal träume ich nur (lacht). Im Moment habe ich zwei Assistenten und zwei Praktikanten, was relativ viel ist. Normalerweise sind wir eher zu dritt. Ich mag die Intimität eines Studios, in dem alle am selben Tisch sitzen und es keine starren Bürozeiten gibt. Meine Mitarbeiter können kommen und gehen, wann sie wollen. Wir haben auch keine Kleiderregeln und tragen Shorts, zumal wir bei der Arbeit an den Modellen häufig dreckig werden. Im Moment ist mein Studio das Gegenteil von einem normalen Industriedesign-Studio, und hoffentlich wird es so eines auch nie werden (lacht).

Wie gehen Sie an neue Projekte heran?

Wir arbeiten von Handzeichnungen über Modelle bis zu Renderings am Computer. Ich persönlich fange lieber auf dreidimensionalem Wege an, als mich an den Computer zu setzen. Aber manchmal ist es unmöglich, wenn Größe oder Materialien ein Projekt zu teuer oder zu komplex machen, um an Modellen zu arbeiten. Ich selbst kann am Computer nicht entwerfen (lacht). Als ich vor vielen Jahren noch Student war, haben sie uns Programme wie Solid Works beigebracht. Aber für mich sind dies keine Werkzeuge, um zu entwerfen, sondern lediglich Mittel, um einen Entwurf auszuführen. Während des Studiums wollte ich keine Zeit verlieren und saß also weiter in der Werkstatt und habe Modelle gebaut. Diese Entscheidung bereue ich bis heute nicht, allerdings brauche ich nun immer einen Assistenten, der mir bei Arbeiten am Computer hilft. Ich kann meine E-Mails lesen, im Internet recherchieren oder ein wenig Photoshop, wenn es wirklich sein muss. Aber das ist es.

Trotz des breiten Spektrums Ihrer Arbeit haben Sie bislang um das Entwerfen von Stühlen einen Bogen gemacht. Warum?

Stühle sind für mich ein wenig zu nützlich. Es gibt einfach zu viele Aspekte, die sie erfüllen müssen. Darum arbeite ich lieber an Objekten wie Spiegeln, mit denen man nicht physisch interagieren muss. Sie sind wie ein Gemälde. Sie müssen nichts erfüllen, außer zu reflektieren. Mit Leuchten ist es dasselbe. Die einzige Interaktion zwischen Mensch und Objekt besteht darin, sie an- und wieder auszuschalten. Irgendwann wird dies über eine Fernbedienung oder durch das Zusammenklatschen der Hände passieren. Die Einschränkungen sind sehr klein, mit Ausnahme der Tatsache, dass sie eine bestimmte Menge oder Qualität an Licht spenden sollen. Auf diesen Feldern fühle ich einen hohen Grad an Freiheit und befinde mich dennoch in der Welt des Designs.

Vielen Dank für das Gespräch.
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Ron Gilad

www.rongilad.com

Designfenzider

www.designfenzider.com

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