Menschen

Setsu & Shinobu Ito

Über Räume ohne Möbel, die Schönheit der Asymmetrie und warum Japaner am liebsten vor ihrem Sofa auf dem Boden sitzen.

von Norman Kietzmann, 27.02.2014

Setsu und Shinobu Ito sind im privaten wie beruflichen Leben ein Paar. Nach seinem Abschluss an der Tsubaka Universität in Tokio ging Setsu Ito (*1964) nach Mailand und arbeitete im Studio Alchimia mit Alessandro Mendini sowie im Anschluss für Angelo Mangiarotti. Shinobu Ito (*1966) studierte an der Tama Art University in Tokio und begann ihre Karriere bei Sony Music, ehe sie später einen Master an der Domus Academy in Mailand absolvierte. Dort gründeten beide 1995 ihr gemeinsames Designbüro und entwerfen seitdem Möbel für Edra, Poltrona Frau und De Padova, Elektrogitarren für Yamaha oder Mobiltelefone für Mitsubishi. Wir trafen Setsu und Shinobu Ito in ihrem Mailänder Büro und sprachen mit ihnen über Räume ohne Möbel, harmonische Sofas und warum wir besser vergessen sollten, was wir gestern getan haben.

Setsu und Shinobu Ito, Sie leben seit über 25 Jahren in Italien. Worin unterscheidet sich die Wohnkultur von Okzident und Orient?
Shinobu: Wir haben in der traditionellen, japanischen Kultur keine Stühle. Wir nehmen ein Kissen und setzen uns auf Tatami-Matten direkt auf dem Boden. Der Boden ist etwas sehr Wichtiges für uns. Darum ziehen wir auch immer die Schuhe aus, wenn wir ein Haus betreten. Den Zimmern sind keinen konkreten Funktionen zugewiesen wie im Westen, sondern sie verändern ihre Rolle mit der Uhrzeit und den Bedürfnissen. Wird ein kleiner Tisch aufgestellt, dient ein Raum als Esszimmer. Ist man mit dem Essen fertig, wird der Tisch weggenommen und ein Futonbett gebracht. Schon wird aus dem Raum ein Schlafzimmer. Selbst die Küche ist flexibel. Das ist das Konzept des japanischen Wohnens.

Setsu: Das japanische Haus wird von Pfeilern und nicht von Wänden strukturiert. Darum gibt es sehr viele leere und flexible Räume. In alten Häusern kann dieser Raum durch Trennwände oder Schiebetüren unterteilt werden, die aus Papier oder leichtem Holz bestehen. So lassen sie sich bewegen und entfernen, um wieder einen Open Space zu erzeugen.

Dennoch werden in modernen japanischen Wohnungen Sitzmöbel benutzt. Wie nehmen Sie Stühle wahr: als Fremdkörper?
Shinobu: Nein, weil es selbst in unseren modernen Häusern immer einen Raum mit Tatami-Matten ohne Möbel gibt. Das können wir einfach nicht vergessen (lacht). Unsere Art zu Wohnen hat sich also nicht komplett verändert. 

Setsu: Es ist sehr lustig, weil Japaner wie im Westen im Wohnzimmer ein Sofa haben. Aber häufig sitzen sie auf dem Boden und lehnen sich mit dem Rücken an das Sofa (lacht). Auch meine Mutter macht das ständig (lacht). Ich denke, das zeigt ganz gut, wie sich das Wohnverhalten unterscheidet. 

Was würden Sie an ihrer Arbeit als typisch japanisch bezeichnen?
Setsu: Wir bewegen uns immer zwischen der westlichen und der östlichen Kultur und spielen mit diesen beiden Sprachen. Ein wichtiges Thema ist sicher die Natur. Das muss aber nicht bedeuteten, dass wir nur mit natürlichen Materialien arbeiten. Wir denken auch über die Natur nach, wenn wir Kunststoff verwenden.

Shinobu: Man muss sich die Natur wie einen Baum vorstellen. Er ist sehr kompliziert, aber schön. Es ist unmöglich, sich an die genaue Form zu erinnern. Doch darin liegt die Schönheit der Natur. Man kann sie nicht zeichnen, weil sie sich jedes Mal verändert. Sie ist wie Zen (lacht). 

Setsu: Ja, in der Zen-Philosophie fühlen wir jeden Tag das Neue. Du sollst vergessen, was du gestern gegessen hast. Wenn du dich daran erinnerst, dass der Fisch gestern so gut geschmeckt hat, wird dir das Fleisch am nächsten Tag vielleicht nicht schmecken. Denn du wirst sagen, dass das andere besser war. In der Zen-Philosophie geht es darum, alles wieder zu vergessen, um das Neue schätzen zu können.


Was bedeutet das übertragen auf das Design?
Setsu: Schauen Sie diese Blumenvase hier. Sie hat einen komplizierte Körper mit vielen unterschiedlichen Seitenflächen, die prismatisch geteilt sind. Wie nennen sie einen „unbewussten Polyeder“, weil sie weder einen rechten Winkel besitzt noch mit einem klassischen Grundriss oder Aufriss zu beschreiben ist. Sie verändert ihre Erscheinung aus jedem Blickwinkel. Es vermittelt uns ein frisches Gefühl, wenn die Dinge nicht immer gleich aussehen und man immer wieder eine neue Seiten an ihnen entdecken kann. Symmetrie ist etwas sehr Westliches. In Asien empfinden wir unsymmetrische Körper als viel harmonischer.

Shinobu: Manchmal finden wir solche Formen in der Natur. Manchmal entstehen sie direkt beim Zeichnen. Doch egal, wie unregelmäßig und kompliziert eine Form sein kann: Es gibt immer ein Detail an einem Produkt, das einer regelmäßigen, geometrischen Form wie einem Kreis folgt. Dieses Detail kann zum Beispiel ein runder Teller sein, wie bei unserem Sofa Au für Edra. Er markiert den Start- und Endpunkt für eine Form, die dazwischen sehr unregelmäßig und organisch verläuft.

Die geometrische Form wirkt also wie ein Gegengewicht oder Ruhepol?
Setsu: Ja, sie erzeugt ein Gleichgewicht. Wenn an einem Produkt alles gleich aussieht, ist es uninteressant. Vor allem bei einer unsymmetrischen Form ist diese Balance sehr wichtig. Ein Grund für dieses Empfinden ist sicherlich unsere Schrift. Wir haben über 4000 japanische Schriftzeichen. Aber keines dieser 4000 Zeichen ist symmetrisch. Wenn wir mit der Hand etwas aufschreiben, müssen wir also immer auf das Gleichgewicht achtgeben. Ein wenig haben wir mit unseren Entwürfen versucht, das auf das Design zu übertragen. Wir möchten beim Entwerfen genauso viel Wert auf die Balance legen wie in der Kaligraphie.

Inwieweit unterscheidet sich die Arbeit für einen italienischen oder japanischen Kunden?
Setsu: Die meisten unserer Kunden sind Europäer. Für sie verwenden wir die japanische Kultur als Startpunkt, weil es etwas Neues für sie ist. Umgekehrt machen wir es genauso und nutzen die westliche Kultur für unsere japanischen Kunden (lacht). Auch wenn wir unseren Produkten einen Namen geben, verwenden wir für italienische Kunden stets japanische Namen und umgekehrt.

Shinobu: Bei italienischen Kunden sprechen wir immer mit den Personen, die die Verantwortung haben. Sie sind sehr klar und können sofort sagen: „Das ist schön! Das machen wir.“ Mit japanischen Kunden ist das nicht ganz so einfach. Sie müssen sich jedes Mal erst in der Gruppe besprechen und danach antworten sie. Man bekommt also nie sofort ein Ja oder Nein für einen Vorschlag. Daher braucht es bei japanischen Kunden viel Zeit, um sich gegenseitig zu verstehen.

Setsu: Diese Zurückhaltung ist tief in der japanischen Kultur verankert. Japaner sagen ungern sofort ihre Meinung. Wenn wir die Kunden fragen, sagen sie immer „Das ist gut“. Erst später bekommen wir dann mit, dass sie es nicht mochten (lacht). Sie würden das allerdings nie direkt aussprechen. Darum sagen Japaner von Angesicht zu Angesicht mitunter das Gegenteil von dem, was sie meinen. Hinzu kommt auch, dass die meisten japanischen Unternehmen sehr groß sind. Das macht es schwer, einen Kontakt mit den Verantwortlichen zu finden. Bei den italienischen Firmen sprechen wir immer direkt mit den Besitzern.

Wie arbeiten Sie beide? Gibt es eine genaue Aufgabenteilung?
Shinobu: Es ist ein Mix, und hängt auch stark von dem jeweiligen Projekt ab. Meistens fängt einer an zu zeichnen, und später macht der andere weiter. Häufig besprechen wir auch gleich am Anfang, wohin es gehen soll. Ich kümmere mich hauptsächlich um das Grafikdesign.

Setsu: Sie zeichnet, und ich zeichne. Die meiste Zeit sagt sie: Das ist nicht gut (lacht). Bei unserem Sofa Au habe ich erst gezeichnet und dann ein kleines Modell gemacht. Eigentlich sollte es ein Salz- und Pfefferstreuer werden. Shinobu sah das Modell und schlug vor, es zu vergrößern und daraus ein Sofa zu machen. Das ist der spannende Teil der Zusammenarbeit. Ich selbst wäre nicht auf diese Idee gekommen.

In wenigen Wochen ist wieder Mailänder Möbelmesse. Was werden Sie dort zeigen?
Shinobu: Wir werden in der Triennale ein Projekt mit der japanischen Firma Aisin zeigen. Sie gehören zu Toyota und sind auf Sensoren und Mechanikteile für Autos spezialisiert. Diese Technologie möchten sie vom Auto ins Haus bringen. Darum haben wir ein Konzept für ein Interieur entwickelt, das sehr technologisch und interaktiv ist. Das Sofa sieht nicht aus wie ein Sofa, sondern erinnert eher an Felsen. Sehr weich und natürlich. Wenn man sich hinsetzt, passiert etwas.

Setsu:  Wir nutzen dabei Sensoren, die normalerweise im Auto messen, ob man angeschnallt ist oder nicht. Sie haben diese Sensoren unter dem Sofa und unter dem Bett eingebaut. Das Bett kann so verstehen, ob man schon liegt oder noch ein Buch liest. Daran lassen sich verschiedene Aktionen koppeln. Wir haben beispielsweise direkt ins Innere der Möbel LEDs eingefügt.

Shinobu: Das Bett hat auch einen breiten Sockel, der an einer Seite weit übersteht. Das ist so ähnlich wie in einem japanischen Haus. Wenn ein Freund zu Besuch kommt, sagt man nicht gleich: Komm herein. Es gibt einen Raum außerhalb des Hauses, wo man sich hinsetzen kann. Er ist nicht ganz draußen, aber auch nicht drinnen. Man kann dort Tee trinken und Freunde einladen. Für Japaner ist es etwas sehr Formelles, ein Haus zu betreten. Darum fühlen wir uns wohler damit, draußen zu bleiben. Im Westen gibt es dieses Empfinden nicht. Darum wollte wir diese Gegensätze in einem Möbel zusammenbringen.

Vielen Dank für das Gespräch.

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