Studio Vertijet
„Vertijet“ nannten amerikanische Tüftler in den 50er Jahren ein Experimentalflugzeug, das sie über eine Rampe senkrecht in die Hemisphäre schossen. Wirklich durchgesetzt hat sich die aeronautische Erfindung nicht. Anders könnte es sich beim deutschen Designerduo gleichen Namens verhalten, das aktuell zum Eroberungsflug ansetzt und Hersteller wie COR, Conmoto, JAB Anstoetz, Skia und Elmar Flötotto zu seinen Auftraggebern zählt. Vertijet besteht aus einem Lebens- und Arbeitsteam: der Innenarchitektin Kirsten Hoppert, Jahrgang 1973 und dem Produktdesigner Steffen Kroll, Jahrgang 1968. „Träume“ wollen die beiden erfinden. Was dabei heraus kommt, sind Kofferkamine oder Sitzlandschaften mit Fließstruktur. „Trojanische Formen“, so nennen die Designer ihre verblüffenden, oft preisgekrönten Entwürfe. Das von einer Vulkanlandschaft inspirierte Sofa „Lava“ bekommt im Februar den ‚Preis der Preise’, den Designpreis Bundesrepublik Deutschland 2009, verliehen. Studio Vertijet über Wurfgeschosse als Namen, ostdeutsches Design und trojanische Formen.
In welcher Phase befindet sich Studio Vertijet, verglichen mit der Flugbahn des gleichnamigen „Wurfgeschosses“?
SK: Wir schießen gerade los! Sind also aktuell dabei, zu starten, und das nach zehn Jahren Vorbereitung. Wir haben viele Pflänzchen gepflanzt, vieles erreicht, jetzt sind die Träume, das Unmögliche dran. Vielleicht waren wir in der Vergangenheit nicht immer diplomatisch; wir glauben mehr an die starke Idee eines Designobjekts als an Marketingvorgaben...
KH: Außerdem haben wir gerade unser eigenes Vertriebslabel namens Vertijeté gegründet, für das wir einige Sonderkollektionen sowie noch nicht produzierte Entwürfe auflegen wollen, wie zum Beispiel das ursprünglich für Authentics entworfene Küchenbesteck „WoodyKellen“.
Wie beschreiben Sie den „typischen“ Vertijet-Stil, falls es einen solchen gibt?
SK: Von der Formensprache her gesehen: Amorph bis geometrisch, oder anders gesagt: generalistisch. Eine rund-natürliche Form ist doch erotischer als ein Würfel, oder? Grundsätzlich suchen wir nach einer starken, tragenden Idee und knicken auch nicht ein, falls Einwände von Seiten der Marketingabteilung kommen. Das kann schon Mal zum Eklat führen und ist auch schmerzhaft, mag sogar für manche anmaßend wirken, aber die Entwicklung gibt uns eindeutig recht. Wir wurden von Hersteller-Seite sogar schon gefragt: „Wollt ihr uns veralbern?“. Ich bin zwar ein Science-Fiction-Fan, aber dazu nur soviel: Für Jux haben wir keine Zeit!
Zusammen haben Sie an der Hochschule für Kunst und Design Burg Giebichenstein in Halle studiert. Sehen Sie Unterschiede in der Designbetrachtung und -ausbildung, wenn man die ehemalige DDR mit der BRD vergleicht?
KH: Zum Zeitpunkt der Wende war ich 16, bis dato war das Thema Design in der Öffentlichkeit nicht präsent. Was ich als Vorteil sehe: Wir waren ungeprägt, hatten keine fertigen Bilder im Kopf und haben bei Null angefangen. Wir konnten uns also freier entwickeln. Und wir sind gut im Umdenken, Improvisieren, denn Not macht bekanntlich erfinderisch.
SK: Bestehende Technologien neu zu mixen, das ist typisch ostdeutsch! Heute unterscheidet sich die Ausbildung zwischen West und Ost nicht mehr großartig, die Profs streben hüben wie drüben danach, die Studiengänge internationalisieren. Ganz grundsätzlich würde ich sagen: Wie das Papier ist auch der PC geduldig, er imitiert ja nur die Realität. Klare Vorteile hat dagegen, wer räumlich mit Materialien arbeitet.
Steffen Kroll, Sie haben in Ihrer Diplomarbeit als Produktdesigner einen Schuh-Leisten aus Holz gefertigt. Eine ungewöhnliche Idee ....
SK: Ja, beim „Schuhe machen“ ging es mir darum, zu zeigen, dass sich ein Designer innerhalb kürzester Zeit mit verschiedensten Technologien vertraut machen muss – in diesem Falle mit gleich mehreren Berufen wie Leistenschneider und Schuhmacher. Und natürlich hat mich die Gestaltung der komplexen Form gereizt. Ich glaube, wer einen Leisten machen kann, kann auch ein Auto gestalten.
Gab oder gibt es Vorbilder im Design?
SK: Im Studium: Nein! Alles war neu. Wir haben gekämpft, uns durchgewurschtelt und gelernt, uns an uns selbst zu orientieren. Selbstinszenierung ist nicht unser Ding. Wir sind bereit, uns auseinander zu setzen und haben uns immer wieder gefragt: Design, was ist das?
Und, was ist Design also?
SK: Für mich ist es ein Mittel und ein Werkzeug, um Träume umzusetzen. Ich hatte und habe eine eigene Vorstellungswelt und brauche keine Vorbilder. Natürlich gibt es Designer, die ich sehr schätze, wie zum Beispiel Philippe Starck. Er traut sich, mit Dingen zu spielen, sich von banalen Vorstellungen zu trennen und über Grenzen – auch die der Funktionalität – zu gehen. Er disponiert sich, wird dafür auch geschlagen, wohin gegen das häufig anzutreffende „Understatement“ sich im Grunde einfach nur raus hält.
An wen denken Sie beim Entwerfen?
SK: Das hat mich noch niemand gefragt, aber die Antwort ist einfach: An ein Gefühl! Oder an etwas Fantastisches. In einer entzauberten Welt verschwindet das Fantastische dadurch, dass alles erklärbar, berechenbar, erschließbar ist. Für mich ist ein Entwurf erst dann fertig, wenn ich – mit einer Staubmaske wie Darth Vader – um das Werk herumlaufe und Herzklopfen kriege. Das ist ein guter Indikator. Daneben interessiert es uns nicht, nur Teilaspekte eines Produktes zu bearbeiten oder den Markt zu bedienen, wir möchten auch über die Zukunft des Unternehmens reflektieren dürfen. Wir suchen tatsächliche Innovationen, das kann mitunter radikale Lösungen beinhalten. Gutes Design soll faszinieren, ohne das Ganze jedoch überzubewerten.
KH: Richtig, man muss auch nicht immer genau erklären, wie ein Ding entstanden ist, oder es bis ins Detail analysieren. Am Ende bleibt ein Stuhl ein Stuhl. Das Reden darüber ist manchmal zu sehr aufgeladen und wird etwas hochgespielt, ein nutzloser Überbau! Leute erkennen oft intuitiv, ob eine Idee funktioniert oder nicht.
Funktionen zu hinterfragen, gehört quasi zu Ihrem „Handwerkszeug“. Ein Beispiel dafür ist die Couch „Lava“ für COR, die ganz offensichtlich vom Auswurf spuckender Vulkane inspiriert ist.
SK: Ein immens großer Teil der Menschheit sitzt ja bereits auf dem Boden, und „Lava“ beleuchtet diese Lebensweise ganz gut: Mit einer Gesamthöhe von 75 Zentimetern kommt die Couch ziemlich niedrig daher. Man soll auch ruhig runterrutschen auf dem Polster, das den Sitz mit dem Boden verbindet. Warum müssen wir auf einer Couch wie auf einem Stuhl sitzen? Das tun wir doch schon den ganzen Tag lang vor dem PC! Übrigens hat „Lava“, das anfangs durchaus umstritten war, im Verkauf alle Erwartungen gesprengt und ist neben „Nuba“ unser erfolgreichstes Möbel für COR. Natürlich ist es immer interessant, Funktionen in Frage zu stellen. Ein gedankliches Beispiel: Wir brauchen Stauraum, aber nicht zwingend ein Kastenmöbel.
Könnten Sie sich vorstellen, einen ganzen Planeten in Ihrer Formensprache zu gestalten? Wie würde der aussehen?
SK: Wow, was für eine Idee! Unserer Erde würde dieser Planet jedenfalls nicht ähneln, viele überkommene Funktionen hätten sich erledigt. Statt in Häusern könnten wir in eingefärbten Gashüllen leben – Gardinen und Heizungen gäbe es allerdings keine mehr. Bäume und Sträucher würde ich jedoch beibehalten.
Kann Design also wirklich die Welt verändern?
SK: Aber natürlich! Man denke an die Speerspitze, das Rad, den Computer.... Heute sind es Dinge mit Affordanz, also mit einem bestimmten Aufforderungs- oder Angebotscharakter, wir nennen sie einfach „affordancer“, nicht zu verwechslen mit afro-dancer (lacht), die eine neue Produktgeneration einläuten, weil sie multifunktional sind und über die ihnen zugewiesenen Bedeutung hinausweisen.
In einem früheren Gespräch haben Sie Ihre Entwürfe als „trojanische Formen“ bezeichnet. Steht das für ,Design durch die Hintertür’?
SK: Ganz einfach: Durch trojanische Formen verführen heißt, über Schönheit zu verführen zu neuen Konzepten, nicht über intellektuelle Prozesse. Fremdkörper stellt man sich nicht in die eigenen vier Wände. Wir wollen auch nicht durch eine scheinbare Revolution verunsichern. Mich freut, dass die Idee und Wertigkeit von „Lava“ sogar – oder gerade – von Kindern verstanden wird.
Entwerfen Sie dementsprechend „mit dem Bauch“?
KH: Indirekt, ja. Wir bekommen viele praktische Impulse für unsere Arbeit durch das Draußen sein, durch Beobachten. Wir überlegen nicht: Was könnte man Neues machen?
SK: Wir teilen den gleichen Gefühlskosmos wie unsere Kunden, das heißt: Wir leben in der gleichen Welt und haben ähnliche Vorstellungen und Wünsche.
Wie ist es Ihnen gelungen, als Jungdesigner etablierte Auftraggeber wie COR zu akquirieren?
SK: Indem wir einfach auf sie zugegangen sind, die Initiative lag bei uns. Vitamin B haben wir zu keinem Zeitpunkt besessen. Das Ergebnis: 2002 entstand als erstes Produkt der Zusammenarbeit das Liegesofa „Scroll“.
Wie ist eure Aufgabenverteilung im Duo oder im Team – wer hat welche Rolle?
KH: Grundsätzlich macht jeder das, was er am besten kann. Zum Beispiel ist Steffen ganz klar unser „Pressesprecher“.
SK: Ja, das stimmt.
KH: Interessant ist aber auch, dass ich als Innenarchitektin eher additiv arbeite, während Steffen subtraktiv vorgeht, ähnlich wie ein Bildhauer. Ich baue Papiermodelle, mache das Layout und zeichne viel, während Steffen gern mit Werkzeugen und Materialien arbeitet.
Und wer denkt sich Namen wie „Gubmachobschi“ für einen Drehstuhl mit seitlicher Ablage aus?
KH: Einer unserer Freunde ist Tscherkesse und dort gibt es diesen Brauch, eine Runde zu begrüßen, in dem man ,Gubmachobschi’ sagt: „Hallo – ich grüße diesen Tisch!“. Das hat uns einfach gefallen.....
Wie sehen Ihre aktuellen Pläne und Projekte aus?
SK: Die sind zum Teil natürlich top secret. Nur soviel: Für COR planen wir aktuell weitere Polstermöbel. Daneben produzieren wir in unserer neu gegründeten Firma Vertijeté eigene Ideen, wie eingangs erwähnt, und entwerfen eine weitere Teppichkollektion.
Vielen Dank für das Gespräch.
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