Menschen

Tilman Harlander

Der emeritierte Architektur- und Wohnsoziologe erklärt den Trend zu kleinen Wohnungen

von Judith Jenner, 15.03.2020

Die Größe der Wohnung ist nicht mehr das Statussymbol, das es früher einmal war, sagt der emeritierte Architektur- und Wohnsoziologe Prof. Dr. Tilman Harlander von der Universität Stüttgart. In Zeiten von Urbanisierung und Wohnraumverknappung zählen hingegen authentische, individuelle Lösungen, zu denen Architekten beitragen können. Im Interview spricht er über ihre gesellschaftliche Verantwortung, und wie er sich die ideale Stadt vorstellt.

Viele Investoren setzen heute auf Mikroapartments. Was sagt das über unsere Gesellschaft aus? Es verweist zunächst einmal auf die tiefgreifenden Veränderungen der Wohnungsnachfrage und Haushaltsgrößen: Der typische städtische Haushalt ist längst nicht mehr der klassische Familienhaushalt, sondern es sind die Ein- und Zweipersonenhaushalte, die mittlerweile in den Großstädten bereits 75 bis 80 Prozent der Nachfrage ausmachen. Früher vor allem ein Altenphänomen, ist das Single-Wohnen heute in allen Alters- und Bevölkerungsschichten verbreitet – bei den Studierenden, den „Multilokalen“, den bewusst Solo-Lebenden, den Verwitweten, den Geschiedenen.

Welches Potential hat der Trend zum Mikrowohnen? Er hat das Potential zu mehr Flexibilität im Wohnen, sagt aber auch etwas über die Preis- und Mietenexplosion aus, die wir gegenwärtig auf den Wohnungsmärkten erleben: Die kleinere Wohnung beziehungsweise das in den Großstädten auch statistisch bereits deutlich ablesbare Zusammenrücken auf weniger Fläche folgt in vielen Fällen schlicht ökonomischen Zwängen. Dabei wäre die Verkleinerung der individuellen Wohnflächen – heute circa 45 Quadratmeter pro Person – vor allem aus ökologischen Gründen notwendig. Die Erde hat nicht genügend Ressourcen, um allen ein (Luxus-) Wohnen nach unseren Maßstäben zu ermöglichen. Gefragt sind im Mikrowohnen daher pfiffige architektonische Lösungen, die mögliche Einschränkungen an Fläche mit größtmöglicher Komfortsteigerung und neuen Formen von Gemeinschaftlichkeit im Wohnen verbinden!

Wie lässt sich die wachsende Attraktivität von städtischem Wohnen erklären? Hier wirkt ein ganzes Bündel von Ursachen zusammen: Auf der einen Seite verliert das suburbane Wohnen im Umland an Attraktivität. Die Pendlerbelastungen (Kosten und Zeit) wachsen und zugleich passen zunehmende Frauenerwerbstätigkeit, Mehrfachbeschäftigungen, Arbeitszeitflexibilisierung und die Notwendigkeit lebenslanger Fortbildung immer weniger mit dem klassischen suburbanen Familien- und Lebensmodell zusammen. Auf der anderen Seite werden auch die Städte nach jahrzehntelanger Sanierung und Modernisierung, Verkehrsberuhigung, Wohnumfeldverbesserung etc. immer attraktiver. Und während Handel, Dienstleistungen, Kultur-, Sport- und Freizeitangebote auf dem Land immer weiter ausdünnen, punkten die Städte gerade dort mit reichhaltigen Angeboten. Dennoch: Die Statistiken zeigen, dass das neue Stadtwohnen vornehmlich von akademisch gebildeten Mittelschichten, von Angehörigen der sogenannten „creativ class“ und den jüngeren Altersgruppen zwecks Ausbildung, Berufseinstieg und Karriere getragen wird. Ins suburbane Umland hingegen ziehen nach wie vor überwiegend Familien – und zunehmend auch die durch hohe Wohnkosten in den Kernstädten Verdrängten.

Inwiefern sind Wohnungen Statussymbole? Die Wohnung befriedigt in der Tat nicht allein das elementare, existentielle Bedürfnis nach „Behausung“, gibt Schutz, Privatheit und Sicherheit, sondern dient auch unserer Selbstdarstellung und Abgrenzung zu anderen. In den zurückliegenden Jahrzehnten war die Wohnung das wichtigste Statussymbol, mit dem sozialer Aufstieg und Lebenserfolg dokumentiert wurden. Dies galt in ähnlicher Weise auch für das Auto, das für viele junge Menschen gegenwärtig einen Teil dieser Symbolkraft einbüßt.

Büßt die Wohnung auch diese Symbolkraft ein? Die Wohnung wird weiterhin wichtiges Statussymbol bleiben. Aber vor allem für die neuen urbanen Mittelschichten sind es nicht mehr der suburbane Bungalow und überbordendes Wohnflächenwachstum, die zählen, sondern statt der standardisierten Wohnungseinrichtungen des Industriezeitalters stehen eine urbane Wohnlage und die „authentische“, ästhetisch anspruchsvolle und individualisierte Gestaltung der Wohnung im Fokus. Dabei kann auch eine bewusste Beschränkung der individuellen Wohnfläche ein „Statement“ sein. Nur angemerkt sei, dass sich mittlerweile bis weit in die Mittelschichten hinein mehr als alles andere die Bezahlbarkeit des Wohnens in den Vordergrund schiebt.

Wie sieht in Ihren Augen die ideale Stadt aus, und welche Städte kommen dem am nächsten? Die ideale Stadt ist in meinen Augen eine lebendige, vielfältige und gemischte Stadt. Wohnen, Gewerbe, Handel, Verkehr, Erholung und Dienstleistungen sind räumlich nicht separiert, sondern möglichst eng verflochten. Sozial gemischte Quartiere bieten bezahlbaren und geeigneten Lebensraum für alle Altersgruppen, für Arme und Reiche und verschiedene Ethnien und Religionsgruppen. Die öffentlichen Räume bleiben nicht allein dem Autoverkehr überlassen, sondern haben Aufenthalts- und Kommunikationsqualitäten für alle Bürger – alles in allem angesichts der realen Entwicklungstendenzen ein fast naiv anmutendes Ideal, das wir gleichwohl nicht aus den Augen verlieren dürfen! Europäische Städte, die in puncto Stadtqualität und Wohn- und Lebenszufriedenheit in internationalen Vergleichen regelmäßig gut abschneiden, sind etwa Wien, Zürich oder auch Kopenhagen.

Was können Architekten zu einer gerechteren Gesellschaft beitragen? Die Möglichkeiten auf diesem Feld sind für Architekten arg beschränkt. Die Investoren, die Politik, selbst die Bodenbesitzer besitzen de facto sehr viel mehr Einfluss. Doch man sollte die Gestaltungsspielräume der Architekten auch nicht kleinreden. Sie können viel dazu beitragen, dass nachfragegerechter Wohnungsbau nicht allein beziehungsweise primär die Wohnbedürfnisse der Vermögenden im Blick hat. Für vielfältige Bedürfnisse sind neue gemeinwohlorientierte Wohnmodelle und Grundrisstypen gefragt.

Wie sollte bezahlbarer Wohnraum aussehen? Geförderter, bezahlbarer Wohnraum sollte als qualitätsvoller, flexibel nutzbarer und möglichst langfristig gebundener Sozialwohnraum entstehen. Dort, wo er neu geschaffen wird, sollte er auch einen „Mehrwert“ für das umgebende Quartier mit sich bringen statt Opposition und Wertverlustängste bei den Anwohnern auszulösen. Architekten können im Sinne eines nachhaltigeren, ökologischen Bauens noch sehr viel an Innovationskraft für hochwertige und zugleich kostensparende Baumaterialien und Produktionsmethoden entwickeln.

Facebook Twitter Pinterest LinkedIn Mail
Links

Tilmann Harlander

www.tilmanharlander.com

Mehr Menschen

„Ein Schalter ist wie ein Uhrwerk“

Ein Gespräch über die Gira-Produktneuheiten mit Jörg Müller

Ein Gespräch über die Gira-Produktneuheiten mit Jörg Müller

„Alle am Bau Beteiligten haben Verantwortung“

Ein Gespräch über nachhaltiges Bauen mit Lamia Messari-Becker

Ein Gespräch über nachhaltiges Bauen mit Lamia Messari-Becker

Zwischen Euphorie und Askese

Studiobesuch bei Karhard in Berlin

Studiobesuch bei Karhard in Berlin

Die Storyteller von Södermalm

Studiobesuch bei Färg & Blanche in Stockholm

Studiobesuch bei Färg & Blanche in Stockholm

New Kids on the Block

Interior- und Designstudios aus Berlin – Teil 2

Interior- und Designstudios aus Berlin – Teil 2

„Wir müssen uns nicht verstellen“

Atelierbesuch bei Studio Mara in Berlin-Charlottenburg

Atelierbesuch bei Studio Mara in Berlin-Charlottenburg

New Kids on the Block

Interior- und Designstudios aus Berlin

Interior- und Designstudios aus Berlin

Neue Talente

Die wichtigsten Newcomer*innen des deutschen Designs

Die wichtigsten Newcomer*innen des deutschen Designs

Für die Schönheit des Planeten

Ein Gespräch über nachhaltige Möbel mit Andrea Mulloni von Arper

Ein Gespräch über nachhaltige Möbel mit Andrea Mulloni von Arper

Puzzle für die Wand

Interview mit Paolo Zilli, Associate Director bei Zaha Hadid Architects

Interview mit Paolo Zilli, Associate Director bei Zaha Hadid Architects

In Räumen denken

Vorschau auf die Boden- und Teppichmesse Domotex 2024

Vorschau auf die Boden- und Teppichmesse Domotex 2024

„Wenn man sich vertraut, kann man Kritik annehmen“

Muller Van Severen im Gespräch

Muller Van Severen im Gespräch

Conceptual Substance

Zu Besuch bei fünf crossdisziplinär arbeitenden Studios in Berlin

Zu Besuch bei fünf crossdisziplinär arbeitenden Studios in Berlin

„Ich betrete gerne Neuland“

Ein Gespräch über Akustik mit der Architektin Marie Aigner

Ein Gespräch über Akustik mit der Architektin Marie Aigner

„Mich interessiert, wie die Dinge im Raum wirken“

Peter Fehrentz im Interview

Peter Fehrentz im Interview

Sinn für Leichtigkeit

Das Designerduo Patrick Pagnon & Claude Pelhaître im Gespräch

Das Designerduo Patrick Pagnon & Claude Pelhaître im Gespräch

Experimentierfreudiges Duo

Im Designlabor von Niruk

Im Designlabor von Niruk

Perfekt im Griff

Jan Karcher von Karcher Design im Interview

Jan Karcher von Karcher Design im Interview

Eine widerständige Frau

Studiobesuch bei der Designerin Karen Chekerdjian in Beirut

Studiobesuch bei der Designerin Karen Chekerdjian in Beirut

Der stille Star

Nachruf auf den Mailänder Gestalter Rodolfo Dordoni

Nachruf auf den Mailänder Gestalter Rodolfo Dordoni

Das Beste aus zwei Welten

Jungdesignerin Anna Herrmann im Porträt

Jungdesignerin Anna Herrmann im Porträt

Klasse statt Masse

Urlaubsarchitektur-Gründer Jan Hamer im Gespräch

Urlaubsarchitektur-Gründer Jan Hamer im Gespräch

„Der Prozess wird zum Echo“

Katrin Greiling über die Arbeit mit gebrauchtem Material

Katrin Greiling über die Arbeit mit gebrauchtem Material

„Bugholz ist eine Diva“

Designer Marco Dessí über den Polsterstuhl 520 für Thonet

Designer Marco Dessí über den Polsterstuhl 520 für Thonet

Material matters

Bodo Sperlein und seine Entwürfe für den gedeckten Tisch

Bodo Sperlein und seine Entwürfe für den gedeckten Tisch

Der Geschichtenerzähler

Ein Gespräch mit dem Pariser Innenarchitekten Hugo Toro

Ein Gespräch mit dem Pariser Innenarchitekten Hugo Toro

Wie es Euch gefällt

FSB-Co-Chef Jürgen Hess über den neuen Mut zur Farbe

FSB-Co-Chef Jürgen Hess über den neuen Mut zur Farbe

„Ich liebe es, mit Licht zu arbeiten“

Designer Michael Anastassiades im Gespräch

Designer Michael Anastassiades im Gespräch

Vom Pinselstrich zur Farbwelt

Kreativdirektorin Carolin Sangha über die Color Codes bei Schönbuch

Kreativdirektorin Carolin Sangha über die Color Codes bei Schönbuch

Mehr Raum für Kreativität

Visualisierungsexpertin Andrea Nienaber über die Vorteile der 3D-Planung

Visualisierungsexpertin Andrea Nienaber über die Vorteile der 3D-Planung