Tilman Harlander
Der emeritierte Architektur- und Wohnsoziologe erklärt den Trend zu kleinen Wohnungen
Die Größe der Wohnung ist nicht mehr das Statussymbol, das es früher einmal war, sagt der emeritierte Architektur- und Wohnsoziologe Prof. Dr. Tilman Harlander von der Universität Stüttgart. In Zeiten von Urbanisierung und Wohnraumverknappung zählen hingegen authentische, individuelle Lösungen, zu denen Architekten beitragen können. Im Interview spricht er über ihre gesellschaftliche Verantwortung, und wie er sich die ideale Stadt vorstellt.
Viele Investoren setzen heute auf Mikroapartments. Was sagt das über unsere Gesellschaft aus? Es verweist zunächst einmal auf die tiefgreifenden Veränderungen der Wohnungsnachfrage und Haushaltsgrößen: Der typische städtische Haushalt ist längst nicht mehr der klassische Familienhaushalt, sondern es sind die Ein- und Zweipersonenhaushalte, die mittlerweile in den Großstädten bereits 75 bis 80 Prozent der Nachfrage ausmachen. Früher vor allem ein Altenphänomen, ist das Single-Wohnen heute in allen Alters- und Bevölkerungsschichten verbreitet – bei den Studierenden, den „Multilokalen“, den bewusst Solo-Lebenden, den Verwitweten, den Geschiedenen.
Welches Potential hat der Trend zum Mikrowohnen? Er hat das Potential zu mehr Flexibilität im Wohnen, sagt aber auch etwas über die Preis- und Mietenexplosion aus, die wir gegenwärtig auf den Wohnungsmärkten erleben: Die kleinere Wohnung beziehungsweise das in den Großstädten auch statistisch bereits deutlich ablesbare Zusammenrücken auf weniger Fläche folgt in vielen Fällen schlicht ökonomischen Zwängen. Dabei wäre die Verkleinerung der individuellen Wohnflächen – heute circa 45 Quadratmeter pro Person – vor allem aus ökologischen Gründen notwendig. Die Erde hat nicht genügend Ressourcen, um allen ein (Luxus-) Wohnen nach unseren Maßstäben zu ermöglichen. Gefragt sind im Mikrowohnen daher pfiffige architektonische Lösungen, die mögliche Einschränkungen an Fläche mit größtmöglicher Komfortsteigerung und neuen Formen von Gemeinschaftlichkeit im Wohnen verbinden!
Wie lässt sich die wachsende Attraktivität von städtischem Wohnen erklären? Hier wirkt ein ganzes Bündel von Ursachen zusammen: Auf der einen Seite verliert das suburbane Wohnen im Umland an Attraktivität. Die Pendlerbelastungen (Kosten und Zeit) wachsen und zugleich passen zunehmende Frauenerwerbstätigkeit, Mehrfachbeschäftigungen, Arbeitszeitflexibilisierung und die Notwendigkeit lebenslanger Fortbildung immer weniger mit dem klassischen suburbanen Familien- und Lebensmodell zusammen. Auf der anderen Seite werden auch die Städte nach jahrzehntelanger Sanierung und Modernisierung, Verkehrsberuhigung, Wohnumfeldverbesserung etc. immer attraktiver. Und während Handel, Dienstleistungen, Kultur-, Sport- und Freizeitangebote auf dem Land immer weiter ausdünnen, punkten die Städte gerade dort mit reichhaltigen Angeboten. Dennoch: Die Statistiken zeigen, dass das neue Stadtwohnen vornehmlich von akademisch gebildeten Mittelschichten, von Angehörigen der sogenannten „creativ class“ und den jüngeren Altersgruppen zwecks Ausbildung, Berufseinstieg und Karriere getragen wird. Ins suburbane Umland hingegen ziehen nach wie vor überwiegend Familien – und zunehmend auch die durch hohe Wohnkosten in den Kernstädten Verdrängten.
Inwiefern sind Wohnungen Statussymbole? Die Wohnung befriedigt in der Tat nicht allein das elementare, existentielle Bedürfnis nach „Behausung“, gibt Schutz, Privatheit und Sicherheit, sondern dient auch unserer Selbstdarstellung und Abgrenzung zu anderen. In den zurückliegenden Jahrzehnten war die Wohnung das wichtigste Statussymbol, mit dem sozialer Aufstieg und Lebenserfolg dokumentiert wurden. Dies galt in ähnlicher Weise auch für das Auto, das für viele junge Menschen gegenwärtig einen Teil dieser Symbolkraft einbüßt.
Büßt die Wohnung auch diese Symbolkraft ein? Die Wohnung wird weiterhin wichtiges Statussymbol bleiben. Aber vor allem für die neuen urbanen Mittelschichten sind es nicht mehr der suburbane Bungalow und überbordendes Wohnflächenwachstum, die zählen, sondern statt der standardisierten Wohnungseinrichtungen des Industriezeitalters stehen eine urbane Wohnlage und die „authentische“, ästhetisch anspruchsvolle und individualisierte Gestaltung der Wohnung im Fokus. Dabei kann auch eine bewusste Beschränkung der individuellen Wohnfläche ein „Statement“ sein. Nur angemerkt sei, dass sich mittlerweile bis weit in die Mittelschichten hinein mehr als alles andere die Bezahlbarkeit des Wohnens in den Vordergrund schiebt.
Wie sieht in Ihren Augen die ideale Stadt aus, und welche Städte kommen dem am nächsten? Die ideale Stadt ist in meinen Augen eine lebendige, vielfältige und gemischte Stadt. Wohnen, Gewerbe, Handel, Verkehr, Erholung und Dienstleistungen sind räumlich nicht separiert, sondern möglichst eng verflochten. Sozial gemischte Quartiere bieten bezahlbaren und geeigneten Lebensraum für alle Altersgruppen, für Arme und Reiche und verschiedene Ethnien und Religionsgruppen. Die öffentlichen Räume bleiben nicht allein dem Autoverkehr überlassen, sondern haben Aufenthalts- und Kommunikationsqualitäten für alle Bürger – alles in allem angesichts der realen Entwicklungstendenzen ein fast naiv anmutendes Ideal, das wir gleichwohl nicht aus den Augen verlieren dürfen! Europäische Städte, die in puncto Stadtqualität und Wohn- und Lebenszufriedenheit in internationalen Vergleichen regelmäßig gut abschneiden, sind etwa Wien, Zürich oder auch Kopenhagen.
Was können Architekten zu einer gerechteren Gesellschaft beitragen? Die Möglichkeiten auf diesem Feld sind für Architekten arg beschränkt. Die Investoren, die Politik, selbst die Bodenbesitzer besitzen de facto sehr viel mehr Einfluss. Doch man sollte die Gestaltungsspielräume der Architekten auch nicht kleinreden. Sie können viel dazu beitragen, dass nachfragegerechter Wohnungsbau nicht allein beziehungsweise primär die Wohnbedürfnisse der Vermögenden im Blick hat. Für vielfältige Bedürfnisse sind neue gemeinwohlorientierte Wohnmodelle und Grundrisstypen gefragt.
Wie sollte bezahlbarer Wohnraum aussehen? Geförderter, bezahlbarer Wohnraum sollte als qualitätsvoller, flexibel nutzbarer und möglichst langfristig gebundener Sozialwohnraum entstehen. Dort, wo er neu geschaffen wird, sollte er auch einen „Mehrwert“ für das umgebende Quartier mit sich bringen statt Opposition und Wertverlustängste bei den Anwohnern auszulösen. Architekten können im Sinne eines nachhaltigeren, ökologischen Bauens noch sehr viel an Innovationskraft für hochwertige und zugleich kostensparende Baumaterialien und Produktionsmethoden entwickeln.
Tilmann Harlander
www.tilmanharlander.com