Vielschichtige Gestalterin
Ein Gespräch mit der französischen Designerin Martine Bedin
Martine Bedin war in den Achtzigerjahren Mitbegründerin der legendären Memphis-Bewegung in Italien. Zu den wichtigsten Objekten aus dieser Zeit gehört ihre Leuchte „Super“. Heute arbeitet die 66 Jahre alte Französin als Architektin, Industriedesignerin, Professorin – und auch als Kunstschaffende. Wir sprachen mit ihr über das Memphis-Erbe, erfundene Märkte, ihre Vorliebe für Vasen und ihre Kooperation mit Jean Nouvel.
Sie haben Architektur studiert, aber auch Möbel und Objekte entworfen. Sehen Sie sich als Architektin, als Designerin oder als Künstlerin?
Ich habe schon immer als Architektin und als Innenarchitektin gearbeitet. Kürzlich habe ich für die italienische Marke Rubelli, die wunderbare Stoffe herstellt, Möbel für den Showroom in Paris entworfen. Zur Zeit arbeite ich auch mit dem Architekten Jean Nouvel an seinen Möbelentwürfen. Wir machen Wettbewerbe für Hotels und Resorts in Saudi-Arabien, die quasi in die Berge gemeißelt werden. Ich habe aber auch eine Karriere als Industriedesignerin und habe Leuchten oder Armaturen sowie Taschen und Accessoires entworfen. Die Lehre an Hochschulen ist ein weiteres wichtiges Standbein. Ich bin sehr vielschichtig unterwegs, eine „layer woman“.
In welcher Funktion arbeiten Sie mit Jean Nouvel zusammen?
Vor einem Jahr bat mich Jean Nouvel, die Leitung des Büros für Innenarchitektur und Design zu übernehmen. Er wollte seine Möbel wieder mit seiner Architektur verbinden, wie damals, als er für die Fondation Cartier tätig war. Es ist sehr spannend, Jean bei der Realisierung seiner Möbelträume zu helfen.
In den letzten Jahren haben Sie vornehmlich Vasen entworfen. Warum?
Irgendwann wurde mir klar, dass ich, solange ich für die Industrie entwerfe, einen Markt bediene, von dem ich nicht sicher bin, ob er tatsächlich existiert. Es ist ein erfundener, ein vom Marketing getriebener Markt. Also beschloss ich, mein eigener Produzent für Möbel zu werden, die in Galerien und Museen gezeigt werden. Einzelstücke, sehr kleine Kollektionen mit sechs oder acht Exemplaren. Es glich meiner Arbeit mit Memphis: Ich habe ganz neue Dinge geschaffen. Zur selben Zeit bin ich von Bordeaux nach Rom gezogen und beschloss, meine Entwürfe in kleinerem Maßstab fortzuführen. Ich begann, Vasen zu entwerfen.
Sie haben viel in Carrara in Italien gearbeitet. Ihre ersten Vasen sind aus Marmor gefertigt und wurden in Paris im Musée des Arts Décoratifs gezeigt. War das ein großer Erfolg?
Ich habe einen Tisch gebaut und der japanische Lichtdesigner von Yohji Yamamoto, Mr Nihei, hat alle Displays für die Vasen angefertigt. Da das Museum keine Werbung für die Ausstellung gemacht hatte, war der Eröffnungsabend irgendwie surreal, denn es waren nur meine Familie, Freunde und die Vasen da. Aber später sagten die Museumsmitarbeiter, dass den Besuchern nur ein Blick auf die Ausstellung ausreichte, um direkt so fasziniert zu sein, dass sie Mund zu Mund Werbung dafür machten. So wurde die Ausstellung doch zu einem Erfolg. Das war im Jahr 2007 – ein unglaublicher Moment in meinem Leben. Ein Schlüsselerlebnis mit der Erkenntnis: Wir brauchen kein Marketing. Wir müssen nur die Herzen der Menschen erreichen! Danach wurden einige Galerien neugierig und stellten die Stücke aus. Und so begann auch mein Künstlerleben. Seitdem stelle ich alle zwei bis drei Jahre Vasen aus.
Sie haben einmal gesagt: „Ich liebe die Geschichte der Möbel, aber ich mag nicht die Möbel, die heute produziert werden, oder die Art und Weise, wie sie produziert werden." Was stört sie an der heutigen Möbelindustrie?
Das Industriekapital produziert nicht für die Menschen, sondern für die Industrie selbst. Nur um Märkte zu öffnen, erfindet die Industrie Kundenbedürfnisse, die eigentlich keiner braucht.
Wir sind mit dem Konsum aufgewachsen. Wie können wir unsere Denkweise ändern?
Vieles hängt von der Bildung ab. Wenn wir verstehen, dass unser wertvollstes Gut die Zeit – und ihre Qualität – ist, dann sehen wir, dass wir gar nicht so viele materielle Dinge benötigen. Das Problem ist, dass die Menschen große Angst vor der leeren Zeit haben. Die Coronapandemie war da eine sehr gute Erfahrung. Das ständige Leben zu Hause, vielleicht auch auf engem Raum. Man nimmt seine Umgebung neu war und bewertet sie vielleicht auch anders: Welches Objekt möchte man sein ganzes Leben lang behalten, welches ist ein blöder Gegenstand? Diese Unterscheidungsfähigkeit müssen wir wieder lernen.
Ihr Name ist untrennbar mit der Memphis-Gruppe verbunden. Wie hat diese Zeit Ihre Arbeit geprägt?
Memphis hat wahrscheinlich mein ganzes Leben beeinflusst, nicht nur meine Arbeit. Es ist eine Denkweise, eine Art, sich die Zeit zu nehmen, Dinge anders zu machen. Bei Memphis zu entwerfen, bedeutete eine Menge Freiheit und dieses Gefühl von Freiheit habe ich mir mein ganzes Leben lang bewahrt. Ich lebe damit gut.
Wie fühlten Sie sich als Frau unter vielen Männern in der Memphis-Zeit?
Ich habe nie darüber nachgedacht, dass ich als Frau in dieser Gruppe eine geschlechtliche Minderheit war. Und ich fühlte mich nicht jung, auch wenn ich erst 23 war und Ettore Sottsass 63 – ich war einfach eine Designerin. Wenn man sich in einer kulturell gebildeten Gruppe bewegte, hatte man es mit Intellektuellen zu tun. Egal, ob Frau oder Mann, bei Memphis waren wir alle Intellektuelle. Das war unsere gemeinsame Basis.
Egal, ob Frau oder Mann – sehen Sie das auch heute noch so?
Das Gendern, das wir heute betreiben, ist grundlegend und junge Menschen nehmen es sehr ernst. Ich habe gerade die Auszeichnung Officier des Arts et des Lettres von der französischen Regierung erhalten. Die Designerin Matali Crasset hatte mich vorgeschlagen – mit der Begründung, ich sei Vorbild, weil ich anderen Frauen den Weg zum Designberuf geebnet habe. Aber als ich eine junge Designerin bei Memphis war, dachte ich nie darüber nach, dass ich für Frauen nützlich sein könnte. Ich dachte, ich sei nützlich für das Design.
Brauchen wir heute erneut eine Designbefreiung à la Memphis?
Wir brauchen Menschen, die sich frei fühlen, um die Art und Weise, wie wir leben, anders zu erforschen. Denn Menschen treffen auf Ideen. Das Wichtigste ist, an Ideen zu glauben und wirklich intellektuellen Menschen, die denken und neue Denkansätze eröffnen, Raum zu geben. Ein freies und intensives Leben zu führen ist nicht einfach. Aber morgens aufzuwachen, dem ersten Gesang der Vögel zu lauschen, das erste Licht durch die Wolken zu spüren – das ist der Beginn des Dichterdaseins, das ist der Anfang des wahren Lebens.