Winy Maas / MVRDV
Winy Maas stapelt gern. In die Finger des spielfreudigen Niederländers geraten keineswegs nur Wohnhäuser, Bürokomplexe oder Kulturbauten, die er wie Bauklötze übereinander schichtet. Mit seinem Rotterdamer Büro MVRDV macht er ebenso vor ganzen Landschaften nicht halt und verdichtet sie zu Hybriden aus Architektur und Natur. Wie Urbanismus auch ohne Planer gelingen soll, zeigt Winy Maas auf der Architekturbiennale 2012 in Venedig. Dort sprachen wir mit ihm über Bauen als Software, ein Hotel aus Blumen und eine 4000 Hektar große Republik, in der die Baugesetze nicht mehr greifen.
Herr Maas, auf der Architekturbiennale in Venedig sind Sie mit Ihrem Beitrag The Why Factory vertreten. In einem bunten, comicartigen Film beschreiben Sie die Loslösung von geltenden Baubestimmungen und Masterplänen. Ihre Idealstadt Freeland wird dabei von ihren Bewohnern selbst gestaltet. Wie soll das funktionieren?
Der Vorschlag ist ein Traum und zugleich ein Protest. Ein positiver, konstruktiver Protest gegen das Unvermögen großer Pläne, Beteiligungen und Initiativen zuzulassen. Die meisten Bauvorschriften sind überholt, dumm oder schlichtweg frustrierend. Ich denke, dass eine gewisse Spur Überraschung in der Stadtplanung notwendig ist. Natürlich ist es nicht einfach, mitten in Paris alles von Grund auf neu zu planen. Doch in Almere haben wir dazu die Möglichkeit. Auf einem 4000 Hektar großen Polder planen wir gerade eine Stadt mit 20.000 neuen Eigenheimen. Dieser Ort basiert auf den Gedanken, die wir mir Freeland zeigen wollen. In einem späteren Stadium sollen diese auch auf bestehende Städte angewendet werden.
Was hat es mit dem Titel The Why Factory auf sich? Zusammen mit der Technischen Universität Delft leiten Sie auch einen gleichnamigen Thinktank.
Indem wir einen Hyper-Individualismus einfordern, beginnen wir uns zu fragen, wann wir unseren Nachbarn brauchen. Um die Müllversorgung zu organisieren, müssen wir miteinander reden. Dasselbe gilt für Anschlüsse: Was passiert, wenn ich einen Heizkessel möchte und mein Nachbar auch? Wir untersuchen im Moment zusammen mit der niederländischen Regierung, wie viele Kessel sich im Boden verstauen lassen und wie Anschlüsse mit unterschiedlichen Längen installiert werden können. Wir haben dafür schon zahlreiche Tests durchgeführt, die auch nicht billig waren. Doch von Seiten der Industrie wird diese Entwicklung nicht getragen. Darum müssen wir selbst herausfinden, wie hohe Individualität und hohe Dichte miteinander funktionieren können. Darin liegt zugleich die Verbindung zum Biennale-Thema Common Ground: Wie kann aus einer Vielzahl von „i-lands“ schließlich ein „we-land“ entstehen?
Ihre Energie sollen sich die Bewohner von Freeland über Windräder und Solaranlagen selbst produzieren und somit autark vom Stromnetz werden. Wie realistisch ist diese Vorstellung?
In einigen Teilen von Europa ist sie schon längst Wirklichkeit. In Wallonien sind bereits 50 Prozent der Häuser unabhängig vom Stromnetz. Und bei uns in den Niederlanden entwickelt sich gerade der Energieanbieter Eneco immer mehr vom Netzanbieter zum Anbieter von Produkten, um sich selbst mit Energie zu versorgen. Das ist ein riesiger Schritt. Dass die Entwicklung mancherorts noch stockt, ist eine Frage der Gesetzgebung. So gibt es noch immer einen rechtsgültigen Anspruch auf einen Stromanschluss, wodurch Raum für Leitungen blockiert wird. In Almere werden wir diese Bestimmungen daher aufheben.
Sie meinen einen rechtsfreien Raum?
Nicht ganz. Natürlich darf man seinen Nachbarn nicht erschießen. Doch Freeland wird wie eine eigene, 4000 Hektar große Republik sein, in der bestimmte Baugesetze nicht mehr greifen. Mehr als ein Jahr wurde in der Politik über unseren Vorschlag diskutiert und schließlich zugestimmt. Natürlich hat geholfen, dass der neue Polder zu 80 Prozent dem Staat gehört. Das ist eine spannende Entwicklung für viele weitere Planungen. Ich bin gespannt, wie sich der Grundstücksmarkt und die Immoblienpreise in Zukunft entwickeln werden. Natürlich gibt es auch Gefahren. Was passiert, wenn einer plötzlich alles kauft und machen kann, was er will? Vielleicht baut er ein Atomkraftwerk und schon wäre alles vorbei. Das wäre theoretisch möglich.
Wenn jeder sein eigener Planer sein wird: Worin liegt dann die Rolle des Architekten?
Die Architekten werden weiterhin in der Software sein. Es gibt noch immer viele Elemente, die von ihnen bestimmt werden. Vielleicht werden sie einzelne Komponenten gestalten oder die Programme, mit denen diese Komponenten zusammengestellt werden. Das ist eine Seite. Auf der anderen werden Studien und Planungen benötigt, wie Zugangswege für die Feuerwehr geleitet werden und auch, zu welchen finanziellen Konditionen die Häuser abgegeben werden sollen. Und dann gibt es immer noch viele Leute, die weiterhin einen Architekten wollen. Ein vollständiger Ausstieg wird also nicht passieren. Aber es ist mit Sicherheit eine andere Art von Architektur, die so entstehen wird. Ich denke, dass die Profession der Architekten den Kontakt zum Immobilienmarkt verloren hat und schlichtweg an ihm vorbei arbeitet.
Es stimmt, dass der Großteil aller Einfamilienhäuser nicht von Architekten, sondern Baufirmen geplant wird. Ist Freeland vielleicht nicht auch eine Möglichkeit, die Architekten wieder ins Boot zu holen?
Ja, unser Vorschlag ist ein Weg für die Architekten, an einem Prozess teilzuhaben, der auch ohne sie passieren würde. Gleichzeitig würde er die Armut der Planung ohne Architekten vor Augen führen.
Wie viele Komponenten werden den Häuslebauern von Almere zur Auswahl stehen?
Die Auswahlmöglichkeiten sind unbegrenzt. Es gibt auch keine Begrenzung in der Höhe. Die Software wird eine Art Kollektion von Webseiten verschiedener Baufirmen und Zulieferer sein, die man selbst erweitern kann. Wie weit man gehen möchte, hängt von dem eigenen Bedürfnis nach Komplexität ab. Das ist vergleichbar, als würde man zu Ikea gehen und sich eine Küche planen lassen. Daneben gibt es immer den Bedarf, aus der Kollektion auszubrechen und einzelne Elemente selbst zu bauen oder anderswo anfertigen zu lassen. Ikea wird auch einer der Partner sein, mit denen wir auf Almere zusammenarbeiten. Die Zusammenstellung der Komponenten nennen wir den House Maker. Der andere Abschnitt, der so genannte Villiage Maker, betrifft die kollektiven Belange. In ihm sind die Investoren, Banken sowie Repräsentanten der Gesundheits- und Verkehrsversorgung und dem Brandschutz vertreten. Beide Seiten sind Cluster von unterschiedlichen Leuten, die in die Planung involviert sind.
Die Bewohner von Freeland sollen einen guten Teil ihrer Lebensmittel selbst produzieren, wofür landwirtschaftlich genutzte Parzellen zur Verfügung stehen. Ein wenig erinnert der Vorschlag an Ihren Entwurf des Niederländischen Pavillons auf der Expo 2000 in Hannover. In diesem würfelförmigen Bau hatten Sie mehrere Landschaften übereinander gestapelt.
Wir prüfen derzeit noch die Kapazität von landwirtschaftlichem Boden. Bisher steht nur das Ziel fest, im ersten Abschnitt 10.000 neue Einfamilienhäuser zu bauen. Wie viel Extra-Flächen wir für Obst und Gemüse brauchen, können wir noch nicht genau sagen. Aber mit Sicherheit wird Stapeln notwendig sein. Zusammen mit einer niederländischen Firma planen wir bereits vertikale Gewächshäuser. Sie werden allerdings nur 15 oder 16 Meter hoch sein. Von außen wirken sie eher wie ein Lagerhaus, da sie vom Tageslicht abgeschottet werden.
Wie lautet Ihre Definition von Landschaft?
Landschaft ist künstlich. Weil der ganze Planet künstlich ist. Selbst für Wüsten oder die Küsten von Südostasien gibt es heute Kontrollsysteme. Wir haben gerade den Wettbewerb für die Floriade 2022 gewonnen. Die Gartenbauausstellung findet alle zehn Jahre in den Niederlanden statt. Unser Vorschlag ist eine separate Insel bei Almere, wo die Pflanzen nicht nur am Boden zu sehen sein werden, sondern auch gestapelt sind. Alles wirkt wie ein großes Labor oder eine Art Testkatalog, in dem alles systematisch von A bis Z gestapelt wird. Nach all diesen Gartenschauen und ihrem komischen Beeten ist das sicher sehr aufregend. Auch können die Besucher in einem Blumen-Hotel übernachten, das in der Sektion der Gardenien liegt. Man hat herausgefunden, dass man von ihrem Duft besser schläft. Wir kombinieren dieses Hotel mit den Sinnen.
Vielen Dank für das Gespräch.
Zum Thema: Weitere Berichte aus Venedig erfahren Sie in unserem Special sowie im Biennale-BauNetz-Blog: www.baunetz.de/biennale
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