Campus der schönen Dinge
Die Transformation eines pragmatischen Tagungshauses zum Boutique-Hotel

Seit November 2018 weht ein frischer Wind durch den touristisch etwas angestaubten Harz. Am nördlichen Stadtrand des Luftkurortes Braunlage hat mit dem THH622 ein Pop-up-Hotel einen Kaltstart hingelegt. Im laufenden Betrieb ist ein ganzer Campus entstanden, inklusive Zirkuswagen, Bulli-Park und urgemütlichen Designapartments. Das Konzept: ein Urlaub in der Natur – und in guter Gesellschaft.
Vor einigen Jahren sah es hier, auf dem grünen Hang und in angenehm abgeschiedener Lage vom Wandertrubel am Eichhörnchenbrunnen, noch ganz anders aus. Da gehörte das Gelände der Barmer Krankenkasse, die hier ein Tagungs- und Schulungszentrum in drei Gebäuden unterhielt. Damals lag die Qualität vor allem in der Aussicht, mit dem Wurmberg vor den Fenstern und dem Brocken in der Ferne. Die funktionale Fünfzigerjahre-Architektur und die gut frisierten Rasenflächen verströmten hingegen pragmatischen Schullandheim-Flair.
Einer der beiden Gründer, Investoren und Konzeptoren des THH622 / The Hearts Hotel ist Meik Lindberg. Er ist in der Region aufgewachsen und nach seiner Kindheit bewusst geflüchtet. „Ich habe immer behauptet, mich kriegt hier keiner mehr her“, erzählt der studierte Betriebswirt. Er hat im Ausland und in Hamburg gelebt, Start-ups gegründet und ist durch die Welt gejettet. Dabei hat er viel Zeit in Hotels verbracht und schnell gemerkt, was ihm fehlt oder gefällt. „Ich hatte bald eine ganz klare Vorstellung vom perfekten Hotel. Und habe eigentlich nur darauf gewartet, dass sich in meinem Leben eine Lücke und eine Gelegenheit für ein solches Projekt bietet.“ Als er dann vor ein paar Jahren seine Eltern besuchte, spürte er, dass der Harz sich wandelt. Und vielleicht der Ort seiner Kindheit genau der ist, nach dem er die letzten Jahre gesucht hat. Dann verkaufte die Barmer. An ihn.
Das höchste Boutique-Hotel im Norden
Zu den drei Blockgebäuden der Versicherung gesellt sich noch eine benachbarte Harzer Villa, die kurzerhand auf dem Campus eingemeindet wird. Mit seinem Kompagnon Ralf Hesse, der unter anderem Gesellschafter bei der Hamburger Messe Blickfang ist, startet Lindberg das Projekt „The Hearts Hotel“. Als ersten Schritt eröffnen sie das Haus noch während des Umbaus als Pop-up. So wohnen die Gäste zuerst in der Harzer Villa, dann im alten Schlaftrakt, zuletzt wird der Tagungsbereich entkernt und umgebaut. Und auf dem Weg entstehen immer mehr Ideen. Ein Zirkuswagen aus den Dreißigern findet seinen Weg auf das Grundstück. Es gibt Co-Working-Spaces, eine Fass-Sauna und Pläne für eine Kochschule. Im Sommer können die Gäste E-Bikes leihen, im Winter im Wellnessbereich entspannen. Ein alter Indoor-Pool bekommt ein Makeover. Und als eines Tages Camper anfragen, ob sie Strom für ihren Bulli bekommen können, ist der Grundstein für einen Bulli-Park gelegt. „Wir sind nicht nur ein Hotel, sondern auch eine Gemeinschaft. Es gibt luxuriöse Apartments, klassische Doppelzimmer und ein Hostel – beim Frühstück oder Spieleabend in den Gemeinschaftsräumen sitzen aber alle an einem Tisch.“ Und weil sich auf dem Gelände ständig etwas tut, gibt es für die Gäste mit jedem Besuch etwas Neues zu entdecken.
Erst einmal das eigene Land kennenlernen
Gestaltet wurde das Hearts Hotel von der Inneneinrichterin Tatjana Westphal. Nichts im THH622 ist von der Stange. Viele Möbel wurden individuell entworfen und auf den Raum maßgeschreinert, wofür auf dem Gelände extra eine temporäre Tischlerei eingerichtet wurde. Alles andere kommt von internationalen Flohmärkten und lokalen Wohnungs- oder Hofauflösungen, wurde teilweise aus Altem neu zusammengezimmert. „Manchmal sind wir bis nach Frankreich gefahren und kamen mit dem 7,5 Tonner zurück. Der war dann voll bis unters Dach“, erzählt Lindberg. Ihm ist es wichtig, dass sein Haus Persönlichkeit hat, sich wie ein Zuhause anfühlt. Der Gast spürt, ob ein Raum authentisch und mit Liebe zusammengestellt wurde, oder eine Kulisse ist, die sich nur wohnlich tarnt. Die Zielgruppe des THH622? Designorientierte Großstädter, die Natur- aber auch Netzanschluss suchen. Solche wie Meik Lindberg selbst, die früher nicht in den Harz wollten. Jetzt aber noch dringender nicht mehr fliegen wollen. Der Strukturwandel kündigt sich an. Manchmal spürt man das auch im THH622. „Einmal hat uns ein Gast gefragt, wo denn die Boutique ist. Wir wären doch schließlich ein Boutique-Hotel“, lacht Lindberg. Es ist eben doch noch der Harz.
Nationalpark Harz
Der Harz muss voller Tanten, Großväter und Seniorenwandergruppen sein, denn genau die sind es, die in romantischen Erinnerungen schwelgen, wenn die Sprache auf den größten Waldnationalpark Deutschlands kommt. Von den Metropolen-Hipstern aus Hamburg oder Berlin, die das Landschaftsschutzgebiet vor der Haustüre haben, wurde es zugunsten von Zielen wie Barcelona oder Lissabon gemieden. Jetzt ist Flugscham, Lust am Lokalen und auch noch Pandemie, da ändern sich die Dinge – und mit ihnen langsam der Harz. Sorgen um die Authentizität muss man sich trotzdem (noch) nicht machen. Im Restaurant wird man immer noch mit schnoddriger Gleichgültigkeit bedient, jede Vesper besteht nahezu nur aus Harzer Roller und Hotels mit Möbeln, die überhaupt die Kategorie Interieur verdienen, gibt es wenig (diese Verzweiflung bei Agoda!). Am Ende ist es aber genau diese Zeitreise ins Rustikale, die sich nachhaltig als Urlaubserinnerung festsetzt. Es ist doch vor allem das Fremde, das wir im Urlaub suchen – und was könnte dem Großstädter fremder sein als Spitzendeckchen, Porzellaneber und Ohrensessel aus Eiche? Plötzlich hat man ein Stempelheft, in das man sich an einem von 222 Wanderzielen ein Bildchen drücken kann – schon nach elf wird man zum Wanderprinzen oder zur Wanderprinzessin. Dann möchte man auch Stocknägel, diese kleinen Metallplaketten für den Wanderstock. Und nicht mehr weg. Denn jetzt ist Deutschland mindestens so schön wie Frankreich oder Österreich. Und davon können wir noch unseren Nichten, Neffen und Enkeln erzählen.
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