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Das Märchen aus Zement

von Norman Kietzmann, 15.03.2011


Türmchen, Rundbögen und ein wild wuchernder Garten: In der Umgebung von Barcelona installierte der katalanische Architekt Ricardo Bofill seine Wohn- und Arbeitsräume inmitten einer stillgelegten Zementfabrik. Doch anstatt das Industriedenkmal aus der Jahrhundertwende auf sterile Weise zu restaurieren, verwandelte er es in ein urbanes Märchenschloss.



Es war einmal im Jahr 1973, als sich Ricardo Bofill – seines Zeichens ein junger, aufstrebender Architekt in der neuen Welt des postmodernen Bauens – auf den Weg nach Sant Just Desvern begab. Große Veränderungen hatten den Vorort rund zehn Kilometer westlich von Barcelona ergriffen, als dessen einst so stolzes Industriegebiet von Baggern dem Erdbogen gleich gemacht werden sollte. Doch Bofill hatte eine Idee, die ihn zu schnellem Handeln veranlasste. Flugs wurde er vorstellig bei den örtlichen Behörden und erwarb den Teil einer maroden Zementfabrik für drei Goldtaler und dem Versprechen, dass hier einmal ein paradiesischer Garten blühen werde. Da lachten sie laut über den törichten jungen Mann und ließen ihn – mangels anderer Alternativen – schließlich doch gewähren.

Acht von dreißig Silos

Und so verstrichen die Jahre und der junge Architekt wurde mit seinem Büro Taller de Arquitectura (Architekturwerkstatt) schon bald über die Grenzen seines Landes hinaus bekannt. Er baute Flughäfen und Museen, Kongresszentren und Bürogebäude, ganze Stadtviertel bis hin zu mächtigen, aufragenden Türmen. Seine kleine Zementfabrik in Sant Just Desvern hatte er in der Zwischenzeit nicht vergessen und nahm ihren Umbau Mitte der siebziger Jahre in Angriff. Insgesamt zwei Jahre dauerte die erste Phase des Bauprozesses, der bis heute noch immer nicht ganz abgeschlossen ist, und die ursprüngliche Gestalt des industriellen Areals vollständig veränderte: Von der Fabrik, die einst über dreißig Silos aus Beton verfügte, blieben lediglich acht übrig. Doch was tun mit diesen hohen, engen und vor allem dunklen Räumen?

Die Lösung des Problems lag für Ricardo Bofill auf der Hand: Licht müsse herein in die zylindrischen Räume, von denen sich sechs zu einer Formation von zwei mal drei Türmen gruppierten. Und so schlug er hohe, schlanke Fenster in die betonenen Außenwände, während zwei eingezogene Decken den Innenraum in drei Etagen unterteilten. Besondere Aufmerksamkeit galt hierbei den Details, denn die Form der Fenster unterschied sich deutlich von dem, was seinerzeit üblich war. Sie waren nicht rechtwinklig, sondern verfügten über halbrunde Bögen, eine Unterteilung durch eine steinerne Mittelachse sowie einen Dreipassbogen mit Auge – fast so, wie es in den Palästen der frühen Renaissance üblich war. Die zylindrischen Silos verwandelte er auf diese Weise in die Türme einer Burg, die mit einer weitläufigen „Kathedrale“ ihren Mittelpunkt fand.

Wohnliche Ritterhöhle

Diese platzierte Ricardo Bofill allerdings nicht unterhalb der sechs Silos, die nun den Raum für sein Büro aufnehmen, sondern in einem quer dazu angeordneten, separaten Gebäudeteil. Anders als in die Außenhaut der Silos wurden die bogenförmigen Fenster hier zu einer dichten Reihe aneinander gefügt, so dass viel Licht in den voluminösen Saal fällt. Elf Meter misst der Abstand zwischen Boden und Decke, von der zwei riesige Trichter – als Überbleibsel zweier weiterer Silos – in den Raum herab ragen und dessen industriellen Ursprung lesbar machen. Einen stimmungsvollen Kontrast bilden hierzu die hölzernen Dielen und raumhohen weißen Vorhänge, die den rauen Betonwänden einen betont warmen und wohnlichen Charakter entgegensetzen.

Im hinteren Teil des Saals, in dem Bofill und seine Mannen nicht nur Turniere mit grimmigen Bauherren und ungeduldigen Kollegen ausfechten, sondern ebenso Konzerte, Performances und Empfänge stattfinden, befindet sich ein langgezogener Tisch. Sollte die Teilnehmerzahl einer Tafelrunde etwas kleiner ausfallen, stehen noch drei weitere Tische als Besprechungsinseln zur Auswahl, während weiße Sofaecken der Entspannung und dem informellen Austausch dienen. Skizzen und Baupläne werden auf rollbaren Staffeleien entlang der Wände getragen, als seien sie Exponate in einem Museum. Auch zahlreiche Modelle von anderen Entwürfen aus Bofills Feder lassen sich hier bestaunen und geben einen stimmungsvollen Einblick in seine Arbeit.

Verwunschener Garten

Doch wie in jeder Burg wird nicht nur gearbeitet, sondern ebenso logiert. Und so platzierte Ricardo Bofill die Gemächer seiner Familie, die zusammen eine Fläche von stattlichen 500 Quadratmetern bespielen, gleich oberhalb der großen „Kathedrale“. Eine Passerelle führt von hier in luftiger Höhe direkt zu seinen Arbeitsräumen herüber, so dass der morgendliche Weg nicht unnötig lang ausfällt. Umlaufende Fensterbänder aus Rundbögen durchfluten auch die Privaträume mit viel Tageslicht und erinnern mit ihrem filigranen Stabwerk an die Beletage eines venezianischen Palazzos. Ein Teil des Gebäudes vollzieht  einen leichten Sprung in der Höhe und reicht über die benachbarten Silos hinaus. In der Spitze dieses Turms platzierte Bofill ein würfelförmiges Wohnzimmer, das sich über zwei Etagen erstreckt und durch eine freistehende Treppe aus Beton erschlossen wird. Weiße Sofas und Vorhänge bilden auch hier einen stofflichen Kontrast zu den Wänden aus Beton und dem unverputzten Ziegelstein, während voluminöse Zimmerpflanzen auf den tropischen Garten verweisen, der das Gebäude dicht umschließt.

Vor allem dieser ist es, der der ehemaligen Zementfabrik die Anmutung einer surrealen Märchenwelt verleiht. Stattliche Eukalyptus- und Olivenbäume reihen sich hier neben Palmen und Zypressen, während wilder Wein und Efeu die Fassaden erklimmen wie Lianen in einem Dschungel. Nicht von ungefähr werden manche Besucher an das verwunschene Schloss von Dornröschen denken, das mit einer dichten Hecke die Zeit in seinem Inneren zum Stehen bringt. Das hektische Treiben von Barcelona vermag unterdessen nicht an diesen Ort nicht vorzudringen, der den Spagat zwischen Gegenwart und Vergangenheit, Authentizität und Fiktion auf verblüffende Weise meistert. Und so bekam er schließlich doch noch Recht, der einst junge Mann, dessen Burg von einem paradiesischen Garten langsam verschlungen wird.


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Ricardo Bofill

Taller de Arquitectura

www.ricardobofill.com

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