Das Sechseck von Jintao
Identitätsstiftend: Ein Gemeindezentrum in der Nähe von Shanghai.
Ein Gebäude ist mehr als nur die Summe seiner Materialien. Es ist eine Adresse, die im besten Falle sogar Identität stiften kann. Dass es dazu lediglich sechs Mauern bedarf, zeigt der chinesische Architekt Zhu Xiaofeng. Mit seinem Büro Scenic Architecture plante er im Shanghaier Vorort Jintao ein Gemeindezentrum, das nicht nur wie ein gut geöltes Scharnier zwischen Innen und Außen funktioniert, sondern auch einen Bogen zwischen Tradition und Gegenwart schlägt.
„Die Seele der Architektur liegt darin, wie die Menschen das Wesen der Natur und des Lebens erfahren“, sagt Zhu Xiaofeng. Der gebürtige Shanghaier ist Vertreter einer neuen chinesischen Architektengeneration, die erfolgreich die Spuren des Lokalen erkundet. Traditionelle Bauformen werden aufgegriffen, variiert und auf geradezu selbstverständliche Weise mit den Möglichkeiten des Digitalen kombiniert. Das von ihm entworfene Gemeindezentrum von Jintao bringt gleich mehrere Jahrhunderte Baugeschichte in Einklang, denn die Typologie des traditionellen, chinesischen Hofhauses wird um das fließende Raumverständnis der Moderne erweitert.
Sechs Räume und ein Hof
Wie die Strahlen einer von Kinderhand gemalten Sonne streben sechs Mauern in alle Himmelsrichtungen auseinander und bilden in ihrer Mitte einen sechseckigen Hof. Zwischen den Mauern befinden sich sechs Räume in unterschiedlichen Dimensionen. Drei von ihnen wurden mit hölzernen Wänden an der Innen- und Außenseite verschlossen und dienen den Bewohnern von Jintao zum Karten- und Schachspiel, zum gemeinsamen Teetrinken oder als Bühne für Konzerte und Theatervorführungen. Die übrigen drei Räume bleiben als Durchgänge geöffnet und können für weitere Aktivitäten genutzt werden. Ein nach innen geneigtes Dach sitzt wie eine Mütze auf den Mauern und vereint die sechs Räume zu einem zusammenhängenden Ganzen.
Die Neigung des Daches sorgt für einen bipolaren Effekt: Von außen wirkt der Bau puristisch-streng, während die konisch geschnittenen Eingänge im selben Atemzug die Blicke nach Innen ziehen. Beim Betreten des Hofes wandelt sich dieser Eindruck vollständig. Weil das Dach hier ungefähr auf zwei Drittel der äußeren Raumhöhe abschließt, entsteht ein geradezu intimes Raumverständnis. Sind die Dachziegel den Blicken von außen entzogen, werden sie im Inneren wie auf einer Bühne in Szene gesetzt. Den visuellen Ankerpunkt des Hofes bildet ein noch zierlicher Baum. Eines Tages wird er den Hof als schützendes Dach komplett überragen und dessen kontemplative Wirkung weiter verstärken.
Bipolare Zeitwirkung
Bei der Passage von außen nach innen beginnt in den Köpfen der Betrachter eine Zeitreise. Dominiert beim Exterieur ganz klar die Gegenwart, könnte der Hof durchaus als Überbleibsel eines historischen Gebäudes durchgehen. „Ein alter Stein und eine digitale Struktur sind für uns auf dieselbe Weise inspirierend. Wir glauben, dass darin eine experimentelle Annäherung liegt, die Architektur frisch und vom internationalen Trend des Formalismus fern zu halten“, erklärt Zhu Xiaofeng. Dass der Sprung durch die Zeit gelingt, ist nicht zuletzt einem Griff in die Trickkiste der Materialität geschuldet.
Die in die hölzernen Wände eingelassen Fenster und Türen wurden zwar mit Glas verschlossen. Doch sowohl an der Innen- wie Außenseite wurde den Scheiben ein Gitter aus diagonal gekreuzten Holzleisten vorgesetzt. Die Folge: Indem die Präsenz des Glases auf ein Minimum reduziert wurde, dominiert allein das Wechselspiel aus Mauerwerk und Holz die Architektur. Auch bei der Möblierung wurde auf Kunststoff und Metall verzichtet und stattdessen hölzernen Bänken und aus Bambusrohr gefertigten Stühlen der Vorzug gegeben. Die Bewohner von Jintao betreten somit weder ein befremdliches Alien noch eine austauschbare Box. Sie treffen an einem Ort mit eigenem Charakter zusammen, der auf zeitgemäße und unprätentiöse Weise Vertrauen stiftet.