Koreanische Kapseln
Erschwingliches Wohnen mit sozialen Qualitäten: Songpa-Micro-Housing-Komplex in Seoul.
Wie erschwingliches Wohnen und räumliche Qualitäten in Einklang kommen, zeigt der Songpa-Micro-Housing-Komplex in Seoul. Der Entwurf der koreanischen Architekten Jinhee Park und John Hong setzt nicht nur auf soziale Interaktion zwischen Bewohnern, Anwohnern und Gästen. Auch das Konzept des modularen Bauens wird mit gestalterischer Raffinesse wiederbelebt.
Modulare Wohnkonzepte standen in den sechziger und siebziger Jahren besonders hoch im Kurs. Auch wenn Projekte wie Moshe Safdies Habitat 67 (1967) oder Kisho Kurokawas Nakagin Capsule Tower (1972) weltweit für Aufsehen sorgten: Die meisten Plänen verschwanden alsbald wieder in den Schubladen: Das Leben in der Box wurde zur Utopie verklärt. Jinhee Park und John Hong sind zwei junge Architekten, die sich damit nicht zufrieden geben wollen. Die Gründer des Büros SsD Architecture in Seoul haben in ihrer Stadt einen ungewöhnlichen Wohnbau realisiert. Der Songpa-Micro-Housing-Komplex zeigt nicht nur, wie Wohnen auf wenig Raum gelingt. Er bricht eine Lanze fürs modulare Bauen, indem er bisherige Planungsfehler überwindet.
Konzeptioneller Neustart
Anders als beim Nakagin Capsule Tower in Tokio bilden die Wohnmodule des Songpa Micro Housing weder isolierte Räume, noch wurden sie wie Bienenwaben dicht an dicht übereinander gestapelt. Die vierzehn vorfabrizierten Wohneinheiten, die sich auf eine zwei- und eine fünfgeschossige Gebäudehälfte verteilen, sind rundherum von leerem Raum umgeben. Dazwischen erstrecken sich aus Gittern gefertigte Passagen, Balkone und Terrassen, die dank einer offenen Lamellenfassade viel Tageslicht ins Innere des Gebäudes holen. „Micro-Housing läuft immer Gefahr, als provisorischer Wohnraum mit geringem sozialen Wert gesehen zu werden“, erklären die Architekten. Um den kompakten Wohneinheiten mehr Qualität zu geben, findet das Leben der Bewohner nicht nur in der eigenen Kapsel statt. Es wird auf das gesamte Haus ausgeweitet.
Soziale Stärke
Die Inspiration für diese Lösung fanden die Architekten beim Kochen, genauer gesagt bei einer speziellen Zutat: Tapioka-Perlen. Diese werden aus getrockneten und zerkleinerten Maniokwurzeln hergestellt und als geschmacksneutrale Stärke für zahlreiche asiatische Gerichte verwendet. In heißem Wasser verwandelt sich ihre Oberfläche in ein weiches, transparentes Gel. „Dieser Tapioka-Raum wird zu einer Schnittstelle zwischen öffentlich und privat sowie zwischen innen und außen. Er verstärkt die Beziehungen zwischen den Nachbarn“, beschreiben Jinhee Park und John Hong ihren Ansatz. Die Flure, Treppenhäuser und Terrassen dienen somit nicht nur der Erschließung der Apartments. Sie erweitern sie um gemeinschaftliche Lebens- und Arbeitsräume.
Interaktive Zwischenräume
Auch Ausstellungen und andere kulturelle Aktivitäten sind vorgesehen, um dem Ort ein stärkeres Profil zu geben. Weil nach den örtlichen Bauvorschriften das Erdgeschoss als Parkraum dienen soll, wurde das gesamte Gebäude angehoben. Der überdachte Bereich kann so für Veranstaltungen genutzt werden. Als Schnittstelle zur Stadt dient ein kleines Café mit Auditorium. Letzteres erstreckt sich über das Treppenhaus, das Erdgeschoss und Keller miteinander verbindet. Während die eine Seite des Raumes als schmale Treppe an der Wand entlangführt, wurde auf der anderen Seite jede zweite Stufe ausgelassen. Die Folge sind gestaffelte Ebenen, die mit Kissen und Tischen einen Zuschauer- oder Arbeitsraum bilden.
Variable Verkettung
Die Stärke des Gebäudes liegt in seiner Konfigurierbarkeit. Während beim Nakagin Capsule Tower von der Erweiterbarkeit der einzelnen Module nie Gebrauch gemacht wurde, gelingt dieses Vorhaben bei Songpa Micro Housing leicht. Die in ihrer Größe variierenden Wohneinheiten sind wie bei Kurokawas Entwurf zwar nur für eine einzelne Person ausgelegt. Doch mehrere von ihnen können über Terrassen und Balkone miteinander verbunden werden, die nicht öffentlich zugänglich sind. So lassen sich bis zu drei Module zu einem Cluster für eine Familie oder für eine Gruppe von Freunden kombinieren, ohne ihre Rolle als individuelle Rückzugsinseln aufzugeben.
Kampf den dunklen Ecken
Die aus Beton gefertigten Module sind als autarke Häuser konzipiert, deren Fenster sowohl nach außen als auch zu den Zwischenräumen ausgerichtet sind. Für zusätzliches Tageslicht sorgen schmale Fensterbänder unterhalb der Decken. Weil diese Öffnungen auch im Gebäudeinneren beibehalten werden, kommen die Flure am Tag ohne künstliche Beleuchtung aus. In der Nacht erfüllen die schmalen Bänder eine kommunikative Funktion, weil sie zeigen, wer zuhause zu später Stunde noch aktiv ist. Erscheint die unbehandelte Außenseite der Betonmodule betont rau, ist das Innere ganz in Weiß gehalten. Hinter sämtlichen Wänden verbergen sich Schränke und Ablagen. So gibt das aufklappbare Bett einen Kleiderschrank frei. Die Kochnische schließt bündig mit den Einbauschränken ab. An anderer Stelle lässt sich ein kleiner Tisch aus der Wand herausklappen.
Dynamik vom Gartenzaun
Sinn für Details bewiesen die Architekten auch bei der Fassadengestaltung, die die Wohnmodule, Korridore und Terrassen als transparente Haut umschließt. In vertikaler Richtung fließen stählerne Bänder vom Dach zur Unterkante des ersten Geschosses herab und rotieren dabei in unregelmäßigen Abständen um die eigene Achse. Dieses bei Gartenzäunen beliebte Gestaltungsmotiv verleiht der Fassade einen dynamisch-flirrenden Effekt, der sich durch die Bewegung des Betrachters verstärkt. Trotz geringem Material- und Kostenaufwand haben Jinhee Park und John Hong damit ihr Ziel erreicht: Ihnen ist ein charaktervoller Ort gelungen, der kompaktes wie modulares Wohnen nicht minderwertig erscheinen lässt. Im Gegenteil: Er entfaltet eine betont urbane Qualität, die neugierig macht auf mehr.