Leisetreter mit 114 Füßen
Eine Nebel-, eine Rauch- oder doch eine Metallwolke? Eine Wasserlache – oder eher ein Wasserbecken? Ein metallener Sonnenschirm? Ein gigantisches Schmuckstück? Oder vielleicht sogar eine in mehrere Richtungen zerfließende Quecksilberoblate? Was auch immer – der diesjährige Sommerpavillon des Londoner Ausstellungshauses Serpentine Gallery scheint die Berichterstatter zu metaphorischen Höhenflügen anzuspornen. Dabei ist der Entwurf des japanischen Architektenduos SANAA von berückender Schlichtheit: ein amorphes Aluminiumdach auf vielen schlanken Stützen schlängelt sich um die Bäume vor dem Ausstellungsgebäude. Ein paar Acrylwände bilden so etwas wie einen Innenraum. Mehr gibt es nicht zu sehen auf der Wiese in den Kensington Gardens.
Damit hebt sich der Entwurf der japanischen Architekten Kazuyo Sejima und Ryue Nishizawa alias SANAA angenehm ab von einigen der Vorgängerexemplare der mittlerweile im zehnten Jahr angekommenen Pavillon-Serie. Jedes Jahr beauftragt die Serpentine Gallery ein renommiertes Architekturbüro, das noch kein Projekt in Großbritannien realisiert hat, mit dem Entwurf einer temporären Struktur. Finanziert wird der Bau mit Sponsorengeld und dem Erlös aus seinem Verkauf am Ende des Sommers.
Im vergangenen Jahr durfte Frank Gehry ran, der eine wuchtige und nicht gerade überzeugende Holzkonstruktion auf die Wiese vor dem Ausstellungshaus klotzte. Der Entwurf von MVRDV im Jahr 2004 konnte gar nicht erst umgesetzt werden, weil sich die von den Niederländern vorgeschlagene Überbauung des Hauses mit einem Berg als zu aufwändig erwies. Rem Koolhaas wiederum ließ 2006 eine ballonartige Konstruktion je nach Bedarf mit heißer Luft aufblähen.
Elegante Leisetreter
In diesem Jahr also SANAA, nach Toyo Ito das zweite Büro aus Japan: Von dem Duo war der laute und spektakuläre Entwurf auch gar nicht zu erwarten, denn sie haben sich in den vergangenen Jahren mit leisen und im Detail präzisen Projekten in die Weltspitze gebaut. Mit ihrem fein austarierten Schachtelturm für das „New Museum“ in New York waren SANAA ein Vorreiter des derzeit grassierenden Stapelfiebers in der Architekturszene. Mit dem dünnwandigen Betonkubus der Essener „Zollverein School of Management“ haben sie bewiesen, dass man auch trotz deutscher Vorschriften filigrane Gebäude umsetzen kann.
Alles fließt
Der Londoner Pavillon überzeugt vor allem durch seinen eleganten, fast schwebenden Charakter. In dem auf Hochglanz polierten, organisch gekurvten Aluminiumdach spiegeln sich sowohl die Besucher als auch die Bäume des Parks und verschwimmen miteinander. Das Dach schwingt nicht nur in der Horizontalen, auch die Höhe variiert – bis hin zur Bodennähe. Der Bau ist nach allen Seiten offen und zugänglich. Lediglich das Auditorium ist mit durchsichtigen Acrylglasscheiben abgetrennt. Die von der Moderne geforderte Auflösung der Grenze zwischen Innen und Außen, das Ineinanderfließen der Räume, hier ist es verwirklicht – falls denn das englische Wetter mitspielt. Denn immerhin bis zum 18. Oktober 2009 sollen sich hier die Besucher tummeln.
Heiter und präzise
Doch Kazuyo Sejima und Ryue Nishizawa ist es mit ihrem Pavillon nicht nur gelungen, eine heitere Atmosphäre zu erzeugen. Auch auf den zweiten Blick offenbart das Projekt Qualitäten. So schwingen sich die Kurven des Dachs nicht etwa zufällig durch den Park: Eine der tropfenförmigen Ausbuchtungen führt direkt auf das Gebäude der Serpentine Gallery mit dem Ausgang zum Park zu und bindet den Pavillon so in seinen Kontext ein.
Auch bei der Aufmerksamkeit für Material und Details haben SANAA nicht gespart. Das Dach besteht aus einem Sperrholzkern, der mit Aluminiumpaneelen verkleidet ist – dabei sollten möglichst wenige sichtbare Fugen entstehen. Die ganze Dachkonstruktion ist lediglich 26 Millimeter dick, aber 550 Quadratmeter groß und rund 15 Tonnen schwer. 114 sehr schlanke, ebenfalls auf Hochglanz polierte Edelstahlstützen tragen die Dachfläche. Wie in den vergangenen Jahren unterstützten die Experten vom Ingenieurbüro Arup die Umsetzung des Konzepts – ohne Honorar, versteht sich.
Bei der Ausstattung des Pavillons – ebenfalls eine Spende – verließen sich SANAA ganz auf die Fähigkeiten eines anderen zeitgenössischen Leisetreters: Sie wählten Jasper Morrisons Stuhl „SIM chair“ von Vitra und seine Leuchte „Glo Ball“ von Flos aus.
Ein gelungenes Experiment
Anders als mit großzügigen Sach- und Geldspenden ließe sich das alljährliche Londoner Pavillonexperiment allerdings auch nicht auf die Wiese stellen – in einem Land, in dem die öffentlichen Gelder nicht so üppig fließen wie auf dem Kontinent. Aber da es bisher (beinahe) jedes Jahr wieder gelungen ist, ein neues Architekturschauspiel aufzuführen, scheinen alle Beteiligten ausreichend davon zu profitieren. Zumindest die auslobende Serpentine Gallery bekommt nicht nur eine nette Sommerfrische direkt vor der Haustür, sondern auch unbezahlbare positive PR als experimentelle und innovative Institution.