Schaufenster in die Landschaft
1 / 8

Knapp siebzehn Jahre nach der Eröffnung von Zaha Hadids Feuerwehr- wache und Tadao Andos Konferenzpavillon ist der Vitra-Campus in Weil am Rhein erneut erweitert worden. Entworfen von den Basler Architekten Herzog & de Meuron, werden im „VitraHaus“ künftig die Wohnmöbel und Designklassiker des Unternehmens unter einem Dach präsentiert. Das Ergebnis: ein einprägsamer Bau, der nicht nur sich selbst wirkungsvoll in Szene setzt. Er tut es mit seiner Umgebung ebenso.
Er wolle keinen Architekturzoo, sondern ein Ensemble schaffen, sagte Vitra-Chef Rolf Fehlbaum den über 300 Journalisten, die zur Pressekonferenz nach Weil am Rhein gekommen waren. Nachdem ein Brand 1981 weite Teile der Produktionsgebäude zerstörte, ließ er das Gelände wieder neu errichten. Beauftragt wurden von ihm vor allem Architekten, die wie Frank O. Gehry oder Tadao Ando noch nie zuvor in Europa gebaut hatten oder – wie im Fall von Zaha Hadid – noch keines ihrer Gebäude verwirklichen konnten. Es ging darum, die internationale Avantgarde in das beschauliche Weil zu holen.
Die Zusammenarbeit mit Herzog & de Meuron folgt dieser Idee und markiert dennoch einen Wandel. Das neue Gebäude, das als Ausstellungsort der Vitra-Produkte zugleich die Visitenkarte des Unternehmens bilden soll, ist vor allem ein Bekenntnis zum eigenen Standort. Nicht nur, dass die Architekten aus dem nur wenige Kilometer entfernten Basel stammen. Auch das Gebäude selbst reagiert auf den Ort in mehrfacher Hinsicht.
Chaos in der Landschaft
Der Auftakt verläuft zunächst dramatisch. Als hätte ein Sturm eine Reihe von Häusern in die Luft gewirbelt und zu einem neuen Ganzen zusammenge- schmolzen, ist der Bau von Außen nur schwer zu erfassen. Immer wieder durchdringen sich die einzelnen Volumina und gruppieren sich um einen dreieckigen Hof, der in seiner Ausrichtung auf die Lage am Dreiländereck verweist. Mit einer Höhe von 21,3 Metern überragt das Vitra-Haus die übrigen Gebäude des Geländes spürbar und lässt Gehrys Design-Museum – trotz des betont groß gehaltenen Abstandes – beinahe winzig erscheinen. Doch so chaotisch das Gebäude zunächst auch wirkt, überrascht es mit der Klarheit seines komplett in Weiß gehaltenen Interieurs. Die Ausrichtung der insgesamt zwölf Baukörper erfolgt nicht zufällig, sondern wurde präzise auf die Topografie des Baugrundes abgestimmt. An ihren Stirnseiten durchgehend verglast, funktionieren sie wie Schaukästen, die jeweils einen Ausschnitt aus der Umgebung herausfiltern.
Natur und Schornsteine
Der Rundgang beginnt in der vierten und damit obersten Etage, die über einen Aufzug erschlossen wird. Der Blick wandert von hier direkt auf den idyllisch-naturbelassenen Tüllinger Hügel, während sich auf der Rückseite des Baukörpers die Aussicht auf das Industriegebiet von Basel und dessen Schornsteine der pharmazeutischen Industrie bietet. Dazwischen liegt der Campus von Vitra, der aus dieser Perspektive vollständig zu überblicken ist. Haben Herzog & de Meuron an dieser Stelle eine großzügige Terrasse eingesetzt, griffen sie bei den übrigen Fensterfronten zu einem weitaus markanteren Detail: eine Stufe, die von der Höhe des Bodens abgesenkt wurde und als durchgehende Sitzbank die Wirkung des Panoramas unterstreicht. Die Produkte, die jeweils zu realen Wohnsituationen zusammengestellt wurden, profitieren von der Aussicht und wirken somit lebendiger. Der introvertierten, höhlenartigen Stimmung, mit der die meisten Showrooms der Möbelbranche daherkommen, wird hier bewusst entgegengewirkt.
Die Urform des Hauses
Bereits bei früheren Projekten haben Herzog & de Meuron die Form des Urhauses verwendet. Diese hierbei fortzuführen, scheint konsequent angesichts eines Gebäudes, das dem Wohnen und damit dem eigenen Zuhause gewidmet ist. Sorgt die Form des Satteldaches im Inneren für einen ruhigen und vertrauten Raumeindruck, wird dieser durch die extremen Längen der Baukörper übersteigert. Die Schnittstellen, die durch die Durchdringung der einzelnen Volumen entstehen, nehmen die Form der Dachgiebel auf und bilden sie – je nach Höhe und Winkel der Überschneidungen – entlang der Wände ab. Bleibt deren Formensprache stets der Diagonale verbunden, sind die Treppenauf- gänge als organisch ausschwingende Wendeltreppen ausgeführt.
Stoffliche Materialität
An dieser Stelle zeigt sich zugleich der Sinn für Materialität und Textur, für den die Basler bekannt sind. So wurden die Außenseiten der Wendeltreppe in der Technik des "Stucco Lustro" behandelt und mit mehreren Schichten aus Marmorsand, Marmormehl und Sumpfkalkschichten aufgeputzt. Als Effekt ergibt sich ein konstantes Changieren der weiß glänzenden Oberfläche, die auf diese Weise eine beinahe stoffliche Qualität erhält. Einen Kontrast zur schroffen Kantigkeit des Gebäudes bilden auch die Leuchten im Innenhof, die ebenfalls von Herzog & de Meuron entwickelt wurden. Mit ihrer organisch geformten Kunststoffhülle könnten sie ebenso als Beleuchtung eines Wohnzimmers herhalten und verleihen diesem öffentlich zugänglichen Außenbereich des Gebäudes einen fast privaten Charakter.
Monochrom in Grau
Einladend wirken auch die beiden Bänke, die im Erdgeschoss aus den holzverkleideten Außenwänden der „Vitrine“ – jenem Ausstellungsbereich, der eine Auswahl von Stuhlentwürfen des Vitra-Design-Museums aufnimmt – herauswachsen. Zusammen mit den Sitzplätzen des Cafés, das im Sommer um einen Außenbereich erweitert werden kann, bieten sie den bereits jetzt schon über 90.000 Besuchern pro Jahr die Möglichkeit, sich auszuruhen und den weiteren Rundgang auf dem Campus zu planen. Derzeit wirkt die leicht rötliche Färbung des Lärchenholzes noch ein wenig wie ein Fremdkörper gegenüber dem monochromen Anthrazit, in dem sämtliche Fassaden und Dächer des Hauses gehalten sind. Durch das Sonnenlicht wird auch dieses zu einem hellen Grau ausbleichen und sich mit dem Gebäude verbinden.
Schwebende Schaufenster
Eine Verwandlung vollzieht das Vitra-Haus unterdessen bei Nacht. Wenn die grauen Fassaden von der Dunkelheit verschluckt werden, wird auch die Architektur in ihrer physischen Erscheinung unsichtbar. Lediglich die beleuchteten Innenräume scheinen dann in der Luft zu schweben und setzen ein schon von weitem erkennbares Zeichen in der Landschaft. Herzog & de Meuron haben mit ihrem Entwurf auf die große Geste keinesfalls verzichtet. Doch sie haben sie so zum Einsatz gebracht, dass auch die anderen Mitglieder des Campus nicht um ihre Rolle bangen müssen.
Außerdem neu im VitraHaus: Digitales Katalogsystem von iart interactive aus Basel (bei Page-Online)
Links
Vitra
www.vitra.comVitra Design Museum
www.design-museum.deMehr Projekte
Das Wohnregal
Ein 45-Quadratmeter-Apartment von Atelier tao+c in Shanghai

Die perfekte Welle
Wohnhaus von Omer Arbel in Vancouver fertiggestellt

Nüchterne Stringenz
Apartment von Demo Working Group in Köln

Wohnhaus als Food-Labor
Maison Melba von Atelier L’Abri in Quebec

Verspielter Brutalismus
Casa Alférez in Mexiko von Ludwig Godefroy Architecture

Alles für die Katz
Ein tierliebes Apartment in Japan von Hiroyasu Imai

Genfer Wahrnehmungsmaschine
Vorhang auf für ein Apartment von Bureau

Stille Ecke
Pretziadas La Residenza auf Sardinien

Im Bauch des Wals
Nachhaltiges Wohnhaus von PMMT in Girona

Monolith im Laubwald
Gut getarnte Memphis-Hommage von Jean Verville

Hölzerner Anbau
Ein erweitertes Londoner Reihenhaus von Christian Brailey Architects

Avantgardistische Pop-Collage
Ein Apartment ganz in Pastell von AMOO

Erdige Moderne
Villa im Olivenhain vom spanischen Büro Balzar Arquitectos

Kulturelle Schnittstelle
Neue Showrooms von JUNG in Europa und Asien

Sandstrand am Stadtrand
Eine portugiesische Landhütte von Pedro Henrique

Umarmte Geschichte
Ein Altbau mit Anbau und Aufbau in Melbourne von Edition Office

Geretteter Bestand
Transformation einer Villa aus den Fünfzigerjahren

Licht im Gewölbe
Apartmentumbau in Valencia von Balzar Arquitectos

Terrasse und Terrazzo
Farbenfroher Neustart für ein australisches Wohnhaus von Wowowa

Schwebende Treppe
Ein raumsparendes Pariser Apartment von Heju

Flugrouten für Vögel
The Veranda House von Studio Espaazo in Ahmedabad

Besondere Böden
Fünf Projekte mit ungewöhnlicher Bodengestaltung

Mut zum Muster
Luftiger Umbau in Barcelona von Raúl Sánchez

Kunst unter den Füßen
Atelierwohnung in Prag von Tereza Porybná und Objektor Architekti

Tokioter Schlafkapsel
Eine ungewöhnliche Raum-im-Raum-Lösung von Takehiko Suzuki

Stein auf Stein
Mallorquinisches Wohnhaus aus Ziegeln von Nøra Studio

Kupferkleid auf Beton
Mehrfamilienhaus von Edition Office im Nordosten von Melbourne

Inspiriert von Japan
Rückzugsort in Australien von Dane Taylor Design

Neustart im Altbau
Eine posthumane KI-Intervention in Valencia

Ton in Ton
Neubau aus Naturmaterialien von MESURA in Spanien
