Schwäbisches Glanzstück
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Die Sprache der Moderne hat es zugegebenermaßen nicht leicht gehabt im deutschen Wohnungsbau der vergangenen Jahrzehnte. Zu eng schienen oft die Spielregeln zwischen Sitzdach und Klinkerfassade, als dass wirklicher Gestaltungswille unter den Häuslebauern aufkam. Dass nun ausgerechnet im beschaulichen Reutlingen ein Wohnhaus entstand, das mit seiner modernen, eleganten Erscheinung und einem intelligenten Energiekonzept neue Wege einschlägt, überrascht dabei umso mehr.
Es ist schon ein wenig sonderbar, dieses Gebäude NICHT inmitten einer mediterranen Landschaft mit Blick auf das Meer oder den Comer See zu verorten sondern in Reutlingen, einer mittelgroßen Stadt mit 112.000 Einwohnern im tiefsten Schwabenland. Irgendwie scheint der souveräne, weltgewandte Charme dieses Hauses nicht in die gängigen Klischees zu passen, die einem als gestandenen Berliner in den Sinn fallen, wenn man an südwestdeutsche Eigenheimromantik denken muss.
Blick auf die Schwäbische Alb
Die Aufgabe für den Stuttgarter Architekten Dirk Henning Braun und dessen Büro „Braun Associates“ lag darin, auf einer Grundfläche von 22 x 50 Metern ein Mehrgenerationenhaus zu planen, das über ein flexibles und anpassungsfähiges Wohnkonzept für sieben oder mehr Bewohner konzipiert ist. Gelegen an exponierter Stelle mit Blick auf die Schwäbische Alb sowie den Reutlinger Hausberg ist das Grundstück in südost-nordwester Richtung ausgerichtet. Bei einer direkten Positionierung des Baukörpers entlang der Hangkante ließen sich jedoch nicht alle Gebäudeteile gleichermaßen mit Sonnenlicht und Aussicht versorgen. Dirk Henning Braun entschied sich daher, das Haus als einen länglichen Block direkt in Hangrichtung zu bauen und somit je nach Tageszeit von beiden Seiten ähnliche Licht- und Blickverhältnisse herzustellen.
Permeable Kernzone
Der Grundriss des Gebäudes sieht einen zentralen Kern vor, der sich wie ein Band durch die Mitte des Hauses hindurchzieht. Als schmale durchlässige Zone nimmt er auf beinahe unsichtbare Weise einläufige Treppen zur Erschließung von Erd-, Ober- und Untergeschoss sowie mehrere Toiletten auf. Beidseitig des Kerns sind die einzelnen Wohnräume angeordnet. Trotz dieser klaren Trennung, die sich vom Äußeren des Gebäudes nicht ablesen lässt, können sowohl im Erdgeschoss wie Obergeschoss Räume auf derselben Etage jederzeit miteinander verbunden werden. Hintergrund ist die Möglichkeit, eines Tages vielleicht doch den Wohnraum einer Familiengeneration auf einer zusammenhängenden horizontalen Fläche zusammenzufassen, falls die Gesundheit der Bewohner kein Treppensteigen mehr erlauben sollte.
Schwebende Erscheinung
Im Untergeschoss ist eine gemeinsame Tiefgarage untergebracht, die für mindestens vier Fahrzeuge ausgelegt ist, sowie Räume für eine Büronutzung. Zur Hangseite öffnet sich das Untergeschoss nach außen und geht in eine großzügige Terrasse mit einem offenen Swimmingpool über. Der darüber liegende Baukörper aus Erdgeschoss und Obergeschoss schiebt sich leicht über die Terrasse heraus und erhält dadurch trotz seines beachtlichen Volumens einen schwebenden Charakter. Die beiden seitlichen Fassaden bilden zusammen mit Dach und Balkon einen umlaufenden Ring, der wie ein übergroßer Bilderrahmen das Gebäude umschließt. Der zentrale Kern ist hier deutlich inmitten der gläsernen Fassade abzulesen und wird an dieser Stelle auch weit von Tageslicht durchflutet.
Leben im Open Space
Die Innenräume werden von dunklen Holzböden und hellen weißen Wänden bestimmt, in die Schränke und Ablagen bündig integriert wurden. Der Raum erhält dadurch einen weiten, offenen Charakter und betont zugleich den Blick nach draußen. Eingeschobene Leerräume sorgen zudem dafür, dass Sichtachsen zwischen dem Erd- und Obergeschoss entstehen und damit auch der besonderen Situation Rechnung tragen, dass hier eine große Familie zusammenwohnt.
Intelligentes Klimakonzept
Einen entscheidenden Aspekt nahm das nachhaltige Energiekonzept des Gebäudes ein, bei dem ausschließlich regenerative Energiequellen zum Einsatz kommen. Hierzu werden Wärme bzw. Kälte im Erdreich gespeichert und schließlich über Energie, die in Photovoltaikanlagen auf dem Dach des Hauses gewonnen wird, umgewandelt und nutzbar gemacht. Das Gebäude kann so in den Sommermonaten ohne zusätzliche Energiezufuhr gekühlt werden.
Dirk Henning Braun ist es gelungen, mit seinem Entwurf einen raffinierten, eigenständigen und ausgewogenen Baukörper zu entwickeln, der sowohl von seinem flexiblen Nutzungskonzept als auch aus ökologischer Sicht überzeugt. Bleibt zu hoffen, dass in Zukunft noch mehr Baubehörden dem Beispiel von Reutlingen folgen und sich architektonischen Ideen wie diesen endlich offen zeigen.
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