Wie vom Wind geformt
Mit der Eröffnung des Centre Pompidou in Metz hat Frankreich den ersten Schritt zur Dezentralisierung seiner Kulturinstitutionen begangen. Unter der Regie von Shigeru Ban und seinem Büropartner Jean de Gastine entstand ein einprägsames Gebäude, das der Region Lothringen eine neue Landmarke hinterlässt. Dennoch schienen die Kuratoren der Eröffnungsausstellung Angst vor ihrem eigenen Museum zu haben.
Die Aufregung war den Beteiligten sichtlich anzumerken. Bereits am vergangenen Montag strömte ein Großaufgebot an Journalisten aus aller Welt nach Metz, um den Bau als erste in Augenschein zu nehmen, bevor am Dienstag die offizielle Einweihung durch Präsident Sarkozy erfolgte. Für die rund 127.000 Einwohnern zählende Hauptstadt des Departments Lothringen eine alles andere als gewöhnliche Woche, die auch für Frankreich kaum weniger als eine Neuausrichtung seiner Kulturpolitik bedeutete.
Rund ein Jahr, bevor im nordfranzösischen Lens eine Dependance des Louvre eröffnen wird, lag es nun am Centre Pompidou, als erste große Kulturinstitution den Schritt in Richtung Provinz zu wagen. Für ein Novum sorgt hierbei nicht nur der Stadtort an der luxemburgisch-deutschen Grenze, sondern ebenso seine strukturelle Substanz. Denn es ist die Kommune Metz und die Region Lothringen, die als Bauherren das neue Museum errichtet haben und nicht das französische Kulturministerium mit Sitz in Paris. Die Stadt Metz – die korrekte Aussprache im Französischen lautet übrigens „Mess“ mit einem betont weichen „s“ – musste sich gegen andere Standorte durchsetzen und im Gegenzug verpflichten, die neue Institution künftig auch finanziell zu tragen.
Historisches Gelände
Die Wahl für den Neubau fiel auf ein 50 Hektar großes Grundstück in unmittelbarer Nähe zum Hauptbahnhof. Auch dies ein Umstand, der keineswegs zufällig erfolgte. In einer Stunde und zwanzig Minuten verbindet der TGV die Stadt mit Paris, von Luxemburgs Hauptstand sind es etwa 40 Minuten und von Saarbrücken immerhin rund eine Stunde mit der Bahn. Der regionalen Zugkraft allein scheinen die Intitiatoren des Museums noch immer nicht ganz zu trauen und haben den Standort bewusst nach seiner Verbindung zur Hauptstadt ausgewählt. Wenn deren Besucher in Metz angekommen sind, brauchen sie die historische Altstadt noch nicht einmal zu betreten. Über eine neu errichtete Brücke gelangen sie direkt von der Rückseite des Bahnhofs auf eine ehemalige Brachfläche, die zuvor als Güterbahnhof, Messegelände und in der Antike sogar als Spielstätte eines gallo-römischen Amphitheaters diente.
Erkennbare Zeichen
Bereits 2003 konnten sich Shigeru Ban und Jean de Gastine, der dessen Pariser Büro seit zehn Jahren leitet, mit ihrem Entwurf durchsetzen. Auch wenn der internationale Wettbewerb anonym ausgeschrieben wurde, ließ die markante Dachkonstruktion kaum Zweifel an ihrem Urheber. Für diese soll – wie Ban nicht müde wird zu erzählen – ein chinesischer Hut als Vorbild gedient haben, dessen Flechtwerk ein regelmäßiges Muster aus Hexagonen bildet. In Frankreich, wo diese geometrische Grundform automatisch Heimatgefühle weckt – wenn man die Landesgrenzen aus Küsten, Gebirgen und Flüssen miteinander verbindet, ergibt sich mit etwas Phantasie tatsächlich die Form eines Sechsecks – ein Grund mehr, warum diesem Entwurf der Vorrang gegeben wurde.
Ban übertrug die Form des Hexagons auch auf den Grundriss des neuen Museums, das diese nun zugleich als Logo führt. Von Symbolkraft zeigt sich ebenso die Höhe des Gebäudes, dessen zentraler Mast mit 77 Metern auf das Eröffnungsjahr des Pariser Centre Pompidou im Januar 1977 verweist. Doch so aufgeladen diese Symbolik mitunter klingt: Vielleicht liegt darin, was über den späteren Erfolg eines Großprojektes bestimmt: auf der einen Seite als Metapher (Hut) leicht erklärbar zu sein und ebenso lokale Bezüge (Hexagon = Frankreich; 77 = Pompidou) mit einzuweben, um als prägnantes Zeichen sofort in Erinnerung zu bleiben. Fakten, die es zudem schwer machen, diesen Bau nicht zu mögen, der so leicht daherkommt wie ein Stück Stoff, das vom Wind verformt wurde.
Blickachsen in die Landschaft
Der Bezug zum Ort bildet derweil auch die Grundlage für Shigeru Bans Raumprogramm. Drei Ausstellungssäle von je 80 Metern Länge wurden von ihm auf unterschiedlichen Ebenen um einen zentralen Turm verdreht, sodass sie sich gegenseitig überlagern. Auch dieser folgt einem sechseckigen Grundriss und dient mit seinen gläsernen Fahrstühlen sowie einem Nottreppenhaus der Erschließung des Museums. An ihren Enden durchgehend verglast, geben die Ausstellungsräume wie überdimensionale Fernrohe einen Ausblick auf die Stadt, ihre mittelalterliche Kathedrale und – je weiter man sich den Fenstern nähert – ihre derzeit noch recht unbebaute Umgebung. Im Erdgeschoss führt die „Grande Nef“, das Hauptschiff und zugleich der größte Ausstellungsraum des Museums, bis hinauf in die Spitze des Zeltdaches. Ergänzt werden die insgesamt 5000 Quadratmeter Ausstellungsfläche um ein Auditorium mit 144 Plätzen, ein Studio mit 196 Plätzen sowie die übliche Infrastruktur aus Restaurant, Café und Museumsshop.
Organische Gestalt
So separat die einzelnen Baukörper organisiert sind: Ihre Fassung bekommen sie erst durch das organisch geschwungene Dach, das mit seiner Konstruktion aus 650 Tonnen Fichtenholz und einer Bespannung aus 8.000 Quadratmetern weißen Teflongewebes dem Gebäude seine Gestalt verleiht. Anders als beim Vitra-Haus von Herzog & de Meuron in Weil am Rhein, das auf ähnliche Weise mit Sichtachsen auf seine Umgebung reagiert, verfügen die einzelnen Baukörper des Centre Pompidou über konventionelle, rechteckige Querschnitte und bilden untereinander auch keine Überschneidungen. Die einzelnen Galerien bleiben räumlich autark und können auf diese Weise mit separaten Ausstellungen bespielt werden. Als Ergänzung bieten die Dachflächen der drei Galerien – wettergeschützt von der weißen Zeltmembran, die sie überspannt – weiteren Raum für Skulpturen, Projektionen oder Installationen und sind in ihrem Nutzungskonzept betont offen gehalten.
Prominente Namen
Doch genau an dieser Stelle zeigen sich die ersten Berühungsängste. Die Eröffnungsausstellung, die unter dem Titel „Meisterwerke?“ mit über 800 Werken einen Querschnitt durch die Kunst des 20. Jahrhunderts unternimmt und an wenigen Stellen auch die Gegenwart mit einbindet, beeindruckt mit ihren prominenten Namen – von Picasso, Miro, Martisse, Picabia, Klein, Nauman sind alle vertreten – die in dieser Dichte bisher noch nicht in der Provinz zu sehen waren. Kuratiert vom neuen Museumsdirektor Laurent Le Bon sollte „das Beste, was das Pompidou zu bieten hat“ zusammengetragen werden, was in dieser Kanon-Haftigkeit jedoch eher den Charme einer Stunde Kunstunterricht bekam als eine Ausstellung mit Profil zu bilden.
Gegen den Raum
Mag die Konzentration auf bekannte Namen verständlich sein – schließlich soll die Eröffnungsausstellung auch einen ersten Publikumshit landen – zielte ihre Szenografie (unter der Leitung von Jasmin Oezcebi in Zusammenarbeit mit Laurent Le Bon) fast vollständig an den Möglichkeiten des Gebäudes vorbei. In der „Grande Nef“ – wo im leeren Zustand der Blick vom Erdgeschoss bis hoch hinauf in die Decke des Zeltes reicht und die mit 18 Metern höchste Wand für Bilderhängungen in ganz Europa zur Verfügung steht – wurde ein Dorf aus kleinteiligen Kammern hinein gezimmert, als müsste man mit ihnen eine sterile Messehalle kaschieren. Lediglich an den Decken der Kammern erlauben Öffnungen einen Ausblick auf den Leerraum, der sich über ihnen befindet. Gekrönt wird diese Inszenierung von einem riesigen Spiegel weit oben in der Spitze des Zeltes, in welchem sich die Besucher und die labyrinthartigen Buchten, in denen sie gerade umherwandern, abzeichnen. Drastischer hätte man gegen den vorhandenen Raum nicht vorgehen können.
Angst vor dem eigenen Museum
Anstatt sein Potenzial zu nutzen, wurde er hinter plumpen Stellwänden kaschiert, als müsste man sich seiner schämen. Ein Museum des 21. Jahrhunderts wurde auf diese Weise mit einem Kunstverständnis und Mitteln des 19. Jahrhundert bespielt. Doch es mag einen Grund gehabt haben, warum die Kuratoren Angst vor ihrem eigenen Gebäude hatten. Würde der industrielle Charme, der sich in Anlehnung an das Pariser Vorbild auch in den offen gelegten Lüftungsrohren und der raffiniert ausgearbeiteten Dachstruktur von Shigeru Bans Museum wieder findet, womöglich die Landbevölkerung beim Kunstgenuss überfordern wie es der Bau von Rogers und Piano anfangs mit so manchen weltgewandten Parisern tat?
In dieser Zögerlichkeit offenbart sich zugleich eine etwas seltsame Vorstellung von Dezentralisierung: Geht es womöglich doch nur darum, eine provinzielle Anpassung der Pariser Institution vorzunehmen anstatt Weltniveau auch dem Land zugänglich zu machen? Eine Haltung, die anno 1977 unter Umständen noch nachvollziehbar wäre. Doch in Zeiten von Hochgeschwindigkeitszügen, Billigfliegern und länderübergreifendem Kulturfernsehen sollte man auch den Bürgern von Metz zugestehen, für ein Centre-Pompidou bereit zu sein, das dem Original in Paris nicht nachstehen muss. Der bauliche Rahmen dafür steht jedenfalls bereit.
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