Als die Stühle Hörner bekamen
Sie zählen zu den abstrusesten Dingen, die in punkto Einrichtungstrends je hervorgebracht wurden: aus Geweihen zusammengebaute Möbel, die sich vor allem im späten 19. Jahrhundert im deutschsprachigen Raum großer Beliebtheit erfreuten. Eine Ausgeburt der Geschmacklosigkeit? Vielleicht, aber sicher auch ein spannendes Stück europäischer Kulturgeschichte, die die Lust an der Jagd zum raumfüllendem Dekor erhob. Eine Ausstellung im Wiener Museum für angewandte Kunst (MAK) lässt nun diesen fast vergessenen Teil der Möbelgeschichte wieder aufleben und spannt den Bogen bis weit in das 20. Jahrhundert hinein, als selbst die Ikonen der Moderne in animalischer Gestalt daherkamen.
Eine erste Erwähnung finden Geweihmöbel bereits in der Zeit des Spätmittelalters. So ist überliefert, dass der habsburgische Thronfolger Maximilian II. 1552 einen Elefanten als Geschenk nach Wien brachte, der allerdings schon ein Jahr später verendete. Der Kadaver wurde dem damaligen Wiener Bürgermeister Sebastian Huetstocker übergeben, der aus den Knochen schließlich einen Stuhl anfertigen ließ. Das so seltsam wie primitiv anmutende Objekt muss seinerzeit für enormes Befremden gesorgt haben, wirkten doch die übergroßen Knochen für viele Betrachter wie Relikte aus einer anderen Welt. Wohl aus ähnlichem Grund ließ sich auch der dänische König Frederik III. 1665 einen Thron aus den Zähnen von Narwalen anfertigen, galten diese doch lange als Hörner von Einhörnern und umgaben den Monarchen auf diese Weise zugleich mit einer magischen Aura.
Repräsentative Lüsterweibchen
Noch bevor tatsächlich Möbel aus Geweihen, Hörnern oder Knochen in Mode kamen, entwickelte sich in Deutschland eine Art Vorläufer in Gestalt von so genannten „Lüsterweibchen“. Unter diesem etwas seltsamen Namen sind Leuchter zu verstehen, bei denen mächtige Tiergeweihe mit aus Holz geschnitzten weiblichen Figuren kombiniert wurden. In ihren Händen trugen sie stets ein Wappen, das die Hoheitszeichen der jeweiligen Städte oder Fürstentümer zeigte. Aufgehangen in den Rathäusern wurden sie mit ihrer betont „wilden“ Gestalt als Allegorie für die Autonomie der Städte und Regionen gesehen. Das älteste noch heute erhaltene Exemplar wird auf die Zeit um 1400 datiert. Auch in Holzschnitten von Lucas Cranach finden sich Darstellungen von Lüsterweibchen, die in der Zeit um 1541 den Apostel Paulus sitzend unter einem jener sonderbaren Leuchter zeigen. Albrecht Dürer ging sogar noch weiter und fertige selbst mehrere Entwürfe für Lüsterweibchen an. Sein 1522 für das Rathaus von Nürnberg entstandener Leuchter verbindet dabei ein 34-endiges Rentiergeweih mit einem vergoldeten, dreiköpfigen Drachen zu einem seltsam hybriden Wesen.
Im Sinne der Romantik
Als ab Mitte des 19. Jahrhunderts vor allem im süddeutschen sowie im österreichisch-ungarischen Raum verstärkt Jagdzimmer in vielen adeligen Landsitzen eingerichtet wurden, erlebten die Geweihmöbel schließlich ihre erste Blütezeit. Von vielen Beobachtern wird diese Entwicklung auch als eine teutonische Antwort auf den in England geborenen Trend zu einer „primitiven“ Architektur gesehen, mit der Gartenpavillons und Jagdhütten ein betont naturnahes, rustikales Lebensgefühl vermitteln sollten. Die besondere Faszination, die der Wald auf die deutsche Romantik ausgeübt hat, mag sicher auch eine entscheidende Rolle gespielt haben. Die Ausstattung jener Jagdschlösser sah nicht nur Sessel, Tische, Kommoden und Sofas vor, deren tragende Elemente aus den Geweihen von Hirschen, Elchen oder Rentieren gefertigt. Auch die Wände selbst wurden mit einer derart hohen Zahl von Geweihen geschmückt, das sich zu einer skurrilen, dreidimensionalen Form von „Tapete“ verdichteten. Einen Höhepunkt erreichte hierbei unter anderem die Sammlung des Grafen Arco-Zinneberg in seinem Münchener Stadtpalais, die insgesamt über zweitausend Geweihe und Geweihmöbel umfasste.
Ausläufer im 20. Jahrhundert
Sind Tierreliquien aus der Gestaltung heute weitestgehend verschwunden, erfreuten sie sich selbst in der Frühtagen der Moderne noch großer Beliebtheit. Zwar bekannte Adolf Loos 1898 in einem Essey über „Interieurs“: „Die Leute wollen keine Lüsterweibchen... Sie wollen neues, neues, neues.“ Doch seine Antwort darauf fiel keineswegs puristisch karg aus, wie man vermuten könnte. So entwarf er das berühmte „Schlafzimmer meiner Frau“ in Wien 1903 als einen komplett mit Angorafellen ausgelegten Raum, der den Eindruck einer flauschig weichen Liebeshöhle erweckte. Auch Bruno Taut sah in den Fellen von Eis- und Grizzlybären – allerdings befreit von aufgerissenen Mäulern oder Pranken – eine Art von „reinem Material“, das durchaus auch im Sinne der Moderne zu nutzen sei. Einen Höhepunkt jener Entwicklung nimmt jedoch sicher die berühmte Stahlrohr-Chaiselongue von Le Corbusier und Charlotte Perriand ein, die als Ikone der Moderne ebenfalls mit einem Bezug aus Fohlenfell daherkam. Eine Mitte der Dreißiger Jahre angefertigte Sonderanfertigung für den Maharadscha von Indore, die mit echtem Leopardenfell überzogen wurde, gilt hierbei zugleich als Sinnbild, wie sehr sich die Moderne von ihren ursprünglichen (demokratischen) Idealen entfernt hat. Das zuletzt im Jahr 1980 auf einer Auktion in Monaco zu sehende Möbel zählt dabei zu den Höhepunkten der Wiener Ausstellung, die zugleich auch auf einen beeindruckenden Fundus von Geweihmöbeln aus den Archiven des MAK zurückgreifen kann.
Reedition der Trophäen
Führte eine höhere Sensibilisierung für den Tierschutz dazu, dass Felle in den vergangenen Jahren nicht nur aus dem Möbelbereich sondern zunehmend auch der Mode verschwanden, scheinen sich die Vorzeichen derzeit wieder zu ändern. Ob Sergio Rodriguez‘ neu aufgelegter Stuhl Kilin von 1973, der auf der Kölner Möbelmesse 2009 präsentiert wurde, oder die Klassiker von Le Corbusier, Mies van der Rohe oder Eileen Gray selbst, die schon zu ihrer Entstehungszeit in Ausführungen in Fell erhältlich waren. Unter dem Deckmantel der „Reeditionen“ feiern animalische Häute derzeit ein unerwartetes Comeback. Skurilitäten aus einer anderen Zeit? Vielleicht. Vielleicht haben wir aber auch nur in den vergangenen Jahren die vermeintlich strengen Lehren der Moderne überinterpretiert und in vorauseilendem Gehorsam auch moralisch mit einer lupenreinen, weißen Weste überzogen. Und vor allem: Sind nicht heute auch die Designklassiker selbst zu einer Art von Trophäe geworden, die auf Auktionen und Designmessen gejagt werden wie einst das Wild im 19. Jahrhundert? Wer will schließlich heute noch mühsam selbst zur Flinte greifen und Hirsche, Elche und anderes Getier mit eigenen Händen erlegen? Schließlich wußte schon ein Katalog zur Londoner Industrie-Ausstellung von 1863 vor den Gefahren traditioneller Geweihmöbel zu warnen: „Indessen würden wir Damen in ihrer heutigen Tracht nicht rathen, sich mit derlei Möbeln allzu vertraut zu machen; es sind zu viele Zacken oder „Enden“ daran, an welchen sie sich unrettbar fangen könnten.“
„Möbel als Trophäe“ / noch bis zum 01. November 2009
im Wiener Museum für angewandte Kunst (MAK), Stubenring 5
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