Stories

Anonyme Schönheiten

von Jasmin Jouhar, 11.05.2009


Jeder von uns kann eine ansehnliche Designsammlung sein eigen nennen. Wir brauchen nur die oberste Schublade des Schreibtisches zu öffnen und schon kann es besichtigt werden, unser persönliches Museum der Gestaltung: Büroklammern, Bleistifte, Lineal, Kugelschreiber, Schere, Cutter, Maßband und und und. Doch wer für das Design dieser Gegenstände verantwortlich war, das wissen wir nicht. Und wir denken auch nicht darüber nach, denn alle diese anonymen Dinge sollen vor allem gut funktionieren. Anders als ein Hightech-Bürostuhl oder ein schickes Notebook sind sie keine Statusobjekte, die nach unserer Aufmerksamkeit verlangen, sondern bescheidene Begleiter im Alltag.

Dabei haben manche dieser banal erscheinenden Gegenstände kleine Revolutionen in unseren täglichen Routinen ausgelöst. Beispielsweise die Post-its, die kleinen gelben Notizzettel zum Kleben. Anstatt lose Blätter zu benutzen, die über den Schreibtisch wirbeln und aus Akten und Büchern herausfallen, kleben wir Erinnerungsstützen und Lesezeichen dorthin, wo wir sie brauchen. Und da bleiben sie dann auch – bis wir sie wieder entfernen. Der Witz an den Post-its ist ja gerade, das sie gar nicht richtig festkleben und wieder abgelöst werden können.

Der Siegeszug der gelben Quadrate

Wie so viele andere Erfindungen war der Klebstoff der Post-its eher ein Zufallsfund, dessen Potenzial von der Herstellerfirma „3M“ zunächst gar nicht erkannt wurde. Erst als nach Jahren ein neuer Produktentwickler auf den unzulänglichen Kleber aufmerksam wurde und sich die richtige Anwendung dafür ausdachte, kam der Erfolg. Das schlichte, rationale Design der Klebezettelchen macht sie unverwechselbar. Dank ihrer gelben Farbe fallen sie auch im größten Papierberg auf und lassen sich zudem gut kopieren. Wir haben uns so an sie gewöhnt, dass es sie mittlerweile auch als digitale Version gibt: Mit dem Programm „Stickies“ lassen sich gelbe Notizzettel auf dem Desktop des Rechners platzieren – und natürlich auch wieder löschen.

Faber und Conté

Dass sich wirklich gute Gestaltung nur noch schwerlich verbessern lässt, beweist eines der ältesten Utensilien in unseren Schubladen: der Bleistift. Wir benutzen das unspektakuläre Schreibgerät so häufig und so selbstverständlich; die Frage, wie der Stift eigentlich funktioniert und wer ihn sich ausgedacht hat, kommt da gar nicht erst auf. Die grundlegende Form – eine Schreibmine, die in Holz eingelegt ist – entwickelte der Deutsche Kaspar Faber Mitte des 18. Jahrhunderts. Der Franzose Nicolas Conté verbesserte 1795 das Konzept und machte den Bleistift zu dem, was wir heute kennen.

Universal Design at it’s best

Der Bleistift – und auch der Farbstift – sind so simpel und zugleich so funktional gestaltet, dass sie universell einsetzbar sind. Der Stift liegt ebenso gut in den Händen kleiner Kinder wie in denen berühmter Künstler. Für ihre Weltraummissionen entwickelten die Amerikaner sogar einen speziellen Kugelschreiber, der auch im All funktioniert – die Sowjets gaben ihren Kosmonauten Bleistifte mit auf die Reise. Und der Handwerker auf der Baustelle steckt ihn sich hinter’s Ohr. Die Graphitmine in der Holzhülle ist somit ein Musterbeispiel für Universal Design, also für Produkte, die ihren Benutzern keine Grenzen setzen.

Klammern erwünscht

Wühlen wir weiter in der Schreibtischschublade: Zum Vorschein kommen unter Garantie mindestens auch eine Handvoll Büroklammern. Die Drahtschlaufen bilden den Bodensatz jedes Utensilienbehälters im Büro. Es gibt sie in allen erdenklichen Größen und Farben, aber die grundlegende Form ist seit ihrer Patentierung Ende des 19. Jahrhunderts unverändert. Kein anderer Gegenstand ist so gut geeignet, Papier zusammenzuhalten, ohne es dabei zu beschädigen. Sie lassen sich zudem prima zweckentfremden, etwa, wenn ein kleines, spitzes Werkzeug gebraucht wird. Es gibt sie natürlich auch in einer digitalen Version: Ein kleines Klämmerchen zeigt uns, dass an einer E-Mail ein Dokument angehängt ist.
Reale Büroklammern sind billig, wiederverwertbar, leicht und nehmen praktisch keinen Platz weg. Zu ihnen in die Schublade gesellen sich häufig andere kleine und geniale Helferlein wie Reißzwecken, Radiergummis, Sicherheitsnadeln, Gummibänder oder Streichhölzer.

Crystal, Boss und Scotch

Einige der allgegenwärtigen Utensilien sind nicht ganz so anonym, weil wir zumindest ihre Hersteller kennen, die manchmal gar zum Synonym für das Produkt an sich geworden sind. So heißt durchsichtiges Klebeband in Deutschland Tesa, in den USA jedoch Scotch. Vergleichbare Produkte anderer Hersteller haben es gegen die Macht solcher Namen schwer. Der erste und einfachsteKugelschreiber kommt von Bic und heißt, wie er aussieht: „Crystal“. Textmarker sind bullige Gestalten aus dem Hause Stabilo und heißen „Boss“. Von derselben Marke stammen die „Fineliner“, schlanke, orangene Filzschreiber, beliebt bei Grafikern, Illustratoren und anderen Kreativen. Die wohlgeformte Papierschere mit den orangenen Griffen stellt die finnische Firma Fiskars her. Ihre Griffe sind aus ergonomischen Gründen ungleich groß. Diese Liste kann jeder selbst mit einem Blick in die Schublade fortsetzen.

Das Buch zum Thema

Während die meisten Menschen diese anonymen Untensilien zwar häufig nutzen, aber selten würdigen, kann der Schweizer Designer und Professor Franco Clivio gar nicht genug von den einfachen, aber genialen Gebrauchsgegenständen bekommen. Clivio sammelt seit vielen Jahren unscheinbare, vermeintlich ungestaltete Objekte, die sich bei näherer Betrachtung als wahre Meisterwerke entpuppen. Die Werkzeuge, Schreibgeräte, technischen Instrumente und anderen Utensilien aus der ganzen Welt begeistern mit ausgeklügelten Mechanismen, intelligentem Materialeinsatz, einfacher Handhabbarkeit oder außergewöhnlichen Formen. Die Freude an der Schönheit des Alltäglichen bewegte auch Naoto Fukasawa und Jasper Morrison zu ihrem Ausstellungs- und Buchprojekt „Super Normal“.
Wer sich von Franco Clivios Begeisterung für die anonymen Designikonen anstecken lassen will, sollte das schöne Buch „Verborgene Gestaltung. Dinge sehen und begreifen“ zur Hand nehmen: Darin ist Clivios Sammlung dokumentiert – nach Themen sortiert und zu äußerst ästhetischen Tableaus arrangiert.

Kleines Ding ganz groß

Das Sammeln geschah in Franco Clivios Fall jedoch nicht nur zum Selbstzweck. Mithilfe gewöhnlicher und billiger Alltagsgegenstände schärfte Clivio den Blick seiner Studenten an der Hochschule für Gestaltung und Kunst in Zürich: Sie sollten den Wert eines gut funktionierenden Gegenstands schätzen lernen und ein Auge für zweckmäßige und eigenständige Gestaltungslösungen entwickeln.
Mit dem Buch kann nun jeder bei ihm in die Lehre gehen und sich in die wunderbare Welt der kleinen großen Dinge einführen lassen. Und zu Hause oder am Arbeitsplatz überprüfen, wie viele von Clivios Meisterstücken sich in der eigenen Sammlung finden.


Franco Clivio
Verborgene Gestaltung. Dinge sehen und begreifen
Birkhäuser 2009
239 Seiten, 200 Abbildungen
34,90 Euro
ISBN 978-3-7643-8967-3
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Links

Birkhäuser Verlag

www.birkhauser.com

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