Stories

Berliner Glücksmomente

von Tim Berge, 21.06.2011


Gibt es einen neuen „Berliner Stil“ in der Architektur? Am Donnerstag vorvergangener Woche fand im ehemaligen Haus Ungarn in Berlin-Mitte die Veranstaltung Arch+ features 5 mit Siedle als Initiativpartner statt. Im Zusammenhang mit der zuletzt erschienenen Ausgabe des Architekturmagazins – die sich dem Thema „Berlin“ widmete und nach kürzester Zeit vergriffen war – wurden einige der am Heft beteiligten Architekten zu einer Reflektion der Stadt, in der sie leben und arbeiten, aufgefordert. Nach einem einleitenden Vortrag von Arch+-Autor und Baunetz-Redakteur Florian Heilmeyer wurde in zwei aufeinanderfolgenden Runden – zusammengesetzt aus einem „Best of“ der Berliner Architekturszene – diskutiert. Und obwohl die Gespräche immer, wenn sie Fahrt aufzunehmen drohten, durch die Moderation und den zeitlichen Rahmen gebremst wurden, kam es zu einigen Momenten, in denen das Potential des Themas und die Wichtigkeit einer solchen Diskussionsrunde durchschien.


Der Vortrag Florian Heilmeyers umriss noch einmal die in der Arch+ erstellte These einer „Ästhetik der Aneignung“. Anhand der chronologischen Darstellung verschiedener Projekte in Berlin – beginnend mit dem Entstehen der Berliner Clubszene Anfang der neunziger Jahre, über die sich parallel entwickelnde Kunst- und Galerienwelt und endend mit einigen Bauvorhaben privater Bauherren aus genau diesen Bereichen – wurde die Idee formuliert, aus all dem eine architektonische Strategie entwickeln zu können. Geprägt durch die Industriearchitektur Berlins und nicht vorhandenen Budgets der Bauherrschaft hätten die Architekten begonnen, mit minimalen Eingriffen, die eher auf Rückbau denn auf Neubau zielten, so genannte „Raumrohlinge“ zu schaffen: eine Architektur, die keinen fertigen Zustand kennt und sich als Teil „einer fragmentierten Gegenwart“ begreift. Vor allem Menschen aus der Kunstszene – und natürlich die Architekten selbst – begannen so, sich die leer stehenden Stadträume anzueignen. Diese Methodik wurde in den letzten Jahren durch die Kommerzialisierung der Berliner Kunst- und Kulturgesellschaft professionalisiert. Projekte wie das Berghain (karhard architektur und design), der Weekend Club oder die Galerie Giti Nourbakhsch (Robertneun) wandten nun mit wachsenden Budgets dieselbe Vorgehensweise an, die Jahre zuvor noch von Künstlern, Club-Betreibern und Architekten mit deutlich geringerem finanziellen Aufwand umgesetzt wurden.

Fertig unfertig

Kaum einer der Redner sah sich tatsächlich geprägt durch die Stadt Berlin, hatten sie doch entweder in anderen Städten studiert oder fühlten sich einfach nicht als Teil des hippen Berliner Nacht- und Kulturlebens. Worin sich die Beteiligten aber einig waren, war die Tatsache, dass es keinerlei Anlass gibt, die Hauptstadt und ihre Baukultur zu romantisieren. Vielmehr sind die gezeigten Projekte auch das Ergebnis eines baukulturellen und budgetären Zwangs. Jan Wiese (Wenk und Wiese) und Petra Petersson (Realarchitektur) stellten dazu klar, dass sie als Büro nicht nach Berlin gekommen seien, um eine fragmentarische und unfertige Architektur zu planen – ganz im Gegenteil. Unter den gezeigten Projekten waren diese nicht die einzigen, die mit Ausnahme ihrer industriearchitektonischen Hülle nicht wirklich viel mit rohen Räumen zu tun haben. Viele der Architekten, die bei der Veranstaltung auf der Bühne Platz nahmen, arbeiten mittlerweile an größeren Projekten mit deutlich höheren Budgets und ganz neuen Zwängen, die neuer Ansätze und Vorgehensweisen bedürfen. Auch ihre Architektur wird sich dadurch verändern.

Arno Superstar
 
Dass die spezielle Situation Berlins ganz offensichtlich zu einem besonderen Umgang mit vorhandener Substanz geführt hat, zeigte die von der Arch+ getroffene Projektauswahl. Vor allem aus einer dokumentarischen Perspektive betrachtet kann man dieses Heft gar nicht genug loben. Als einer Art „Übervater des Abends“, wie ihn Jens Casper (Realarchitektur) bezeichnete, stellte sich der in Berlin lebende Architekt Arno Bandlhuber heraus. Sein Bauvorhaben in der Brunnenstraße in Berlin-Mitte, bei dem er gleichzeitig als Investor auftrat, wurde viel zitiert und auch seine Kommentare an diesem Abend fanden als einzige die nötige baupolitische Schärfe, die diese Diskussion eigentlich viel häufiger gebraucht hätte. Seine Frage „Warum verscherbelt Berlin eigentlich sein Gemeineigentum in rein private Zugriffsrechte?“ bringt sicherlich einen wichtigen Aspekt der Berliner Misere auf den Punkt. Die wenigen übrig gebliebenen, stadteigenen Flächen in der Innenstadt werden ausnahmslos an private Investoren veräußert, anstelle auf ihnen eine Gegenmaßnahme zu entwickeln – eine neue Art des sozialen Wohnungsbaus – die für ein besseres gesellschaftliches Gleichgewicht in der Innenstadt sorgen würde.

Raus aus der Stadt
 
Eigentlich wäre eine Runde mit den beteiligten Bauherren mindestens genauso interessant gewesen, sind sie es doch, die den Mut aufgebracht haben, ihre Wohnungen, Galerien und Clubs anders zu denken – oder denken zu lassen. Und immerhin müssen sie die Architektur benutzen und mit oder in ihr leben. Die Frage, ob man die bei den vorgestellten Projekten angewandte Architektur auch auf öffentliche oder höher budgetierte Bauvorhaben anwenden könnte, will man sich nach diesem Abend eigentlich gar nicht mehr stellen – wurde einem doch klar, dass das Gezeigte Ergebnis einer besonderen Zeit in einer besonderen Stadt ist. Und diese Zeit neigt sich dem Ende zu. Innerstädtische Flächen, die privaten Nutzern zu einem erschwinglichen Preis zur Verfügung gestellt werden, gibt es kaum noch und auch die Stadt selbst hat scheinbar kein Interesse daran, diese Entwicklung zu stoppen. Der Effekt ist die viel beschriebene Gentrifizierung und eine neue Art der Stadtflucht: Die Innenstadt wird besiedelt von Flagshipstores und zugezogenen Agenturinhabern, die sich die aufgerufenen Fantasiesummen noch leisten können, während sich Künstler und Menschen mit weniger Geld immer weiter an die Ränder der Stadt oder sogar ganz raus aus dieser gedrängt sehen. Berlin ist daher drauf und dran, seine Reize zu verspielen.



Weitere Informationen:
Im Oktober 2010 fand die Auftaktveranstaltung von
ARCH+ features in Berlin statt. Die Veranstaltungsreihe führt die Nachwuchsförderung in Theorie und Praxis in einem Programm zusammen und diskutiert auch aktuelle Aspekte der Schwelle. Siedle unterstützt ARCH+ features als Initiativpartner. Die Kooperation öffnet Siedle den Blick in die gegenwärtige Architekturdiskussion und gibt wichtige Impulse für Innovationen. Das Familienunternehmen beschäftigt sich intensiv mit dem Übergang von außen nach innen und der Frage, wie sich die Bedeutung dieser Schwelle künftig verändert.

Die nächste Veranstaltung der Reihe ARCH+ features findet am 23. Juni 2011 um 19.30 Uhr zum Thema Raumwahrnehmung und Bildpolitik statt. Geladen sind sind Laura Fogarasi-Ludloff und Jens Ludloff, die gemeinsam mit der Kulturwissenschaftlerin Christa Kamleithner über ihr Architekturverständis sprechen, das weniger durch Geometrien, als durch die Wahrnehmung von Raumsequenzen bestimmt sind. Ort ist wieder das HBC in der Karl-Liebknecht-Straße 9, 10178 Berlin.
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