Atelier + Küche = Labore der Sinne
Wer schon immer einmal Gummibärchen, vermischt mit Zigarettenfiltern, Korken, Klebstoff und Farbe sehen wollte, muss diesen Sommer in den Westen der Republik reisen. Denn im Marta Herford findet eine Ausstellung statt, in der sich alles um das Thema Küche, Atelier, Kochen und Kunst dreht. Und genauso sensorisch wie der Titel der Ausstellung klingt – Atelier + Küche = Labore der Sinne – geht es zu in den edlen Hallen der Kunst.
Insgesamt 150 Werke aus den Jahren 1665 bis 2012 – Gemälde, Druckgrafiken, Zeichnungen, Installationen, Fotografien und Videos – sind in Frank Gehrys Museumsbau auf 1200 Quadratmeter Fläche versammelt. Darunter so klangvolle Künstlernamen wie Andy Warhol, Norbert Bisky, Cindy Sherman, Ernst Ludwig Kirchner, Marcel Duchamp oder Bruce Nauman. Auch wenn die ausgestellten Werke von Entstehungszeitraum, Kontext, Material und Technik grundverschieden sind, so kreisen sie doch alle um ein Thema: die Verwandtschaft von Künstleratelier und Küche.
Räume der Kreativität
In beiden Räumen – Künstleratelier und Küche – werden von Künstlern und Köchen sinnliche Erlebnisse produziert: mit Nahrungsmitteln oder Materialien experimentiert und diese kreativ zu einem neuen Ganzen zusammengesetzt. Die Kuratoren der Ausstellung, Roland Nachtigäller und Hubertus Gaßner, haben die Labore der Sinne Küche und Atelier strukturell genauer untersucht und die Parallelen gegenübergestellt: Nicht nur gibt es in beiden Räumen eine Trennung zwischen Herstellungs- und Repräsentationsort – im Atelier die Galerie/ das Museum, in der Küche den Speiseraum oder das Restaurant –, und was die Palette dem Maler im Atelier ist, stellen in der Küche das Schneidebrett und der Tisch dar. Oder aber: Während das Atelier von Besuchern frequentiert wird und in der Küche Gäste umherschwirren, werkelt der Künstler mit Farben, Holz und Steinblöcken und stellt der Koch allerlei Kreatives aus Lebensmitteln her. Manchmal ist der Koch gleichzeitig auch Künstler, so wie Daniel Spoerri. Der Schweizer hatte 1968 in Düsseldorf ein Restaurant eröffnet und die Überreste des opulenten Mahls anschließend als Eat Art verarbeitet. Oder aber Joseph Beuys, in dessen Œuvre Lebensmittel wie Honig, Fett oder Fleisch einige wichtige Rolle spielen und dessen Arbeit Beethovens Küche (1969) in Herford gezeigt wird.
Bilder einer Ausstellung
Um der Fülle des Materials und den unzähligen Querbezügen der Thematik Küche, Atelier, Kochen und Kunst Herr zu werden, haben sich die Kuratoren um Museumschef Roland Nachtigäller für eine Unterteilung der Ausstellung in fünf Themenbereiche entschieden: Tat-Orte, Vom Chaos zur Rezeptur, Materialkunde, Alchemie und Hexenküche, Zwischen Repräsentation und Rückzug.
Im Erdgeschoss des Museums – in einer Ausstellungsarchitektur von Holmer Schleyerbach mit Durchgängen, Kabinetten und Kammern – wird der Besucher gleich zu Beginn des Ausstellungsparcours‘ empfangen von einem künstlerischen Highlight: dem Selbstbildnis mit Küchenstilleben von Max Liebermann aus dem Jahr 1873. Der Maler selbst, behütet mit einer weißen Kochmütze, strahlt dem Betrachter entgegen – in der Tradition des Stilllebens eine Kupferschüssel und ein Tisch mit einem kunstvollen Berg von Gemüse und Salat vor sich. Diesem Ölgemälde gegenüber angeordnet ist ein zeitgenössisches Werk von Rodney Graham: Betula Pendula ,Fastigiata‘ (Sous-Chef on Smoke Break), ein Aluminiumkasten mit einem Leuchtdia. Zu sehen ist darauf der Künstler selbst als erschöpfter und nachdenklicher Koch, der an einem Baumstamm lehnt und sich eine Zigarettenpause gönnt – dargestellt ganz außerhalb seines Arbeitsumfelds.
Ganz eins mit ihrem Arbeitsfeld ist hingegen Marina Abramović auf einem Foto von Reto Guntli, auf dem er die kühle Atmosphäre ihres Ateliers einfängt, während Jessica Backhaus die Wirkungsstätten deutscher Köche im Margaux, in Clärchens Ballhaus, im Gilka oder im Restaurant von Tim Raue ganz ohne menschliche Protagonisten ablichtete. Stattdessen bilden auf ihren Fotografien zufällige Fundstücke wie Ananas, Wischlappen, Kakaopulver oder eine mit Kreide beschriebene Wandtafel eine ganz eigene Art von Stillleben.
Schwieriger Parcours
Bereits diese wenigen Werke verdeutlichen die Spannweite der Ausstellung, fassen die Kuratoren den Zusammenhang zwischen Küche und Atelier sehr weit. Für den Besucher – wenn er nicht gerade den gesamten Katalog als vorbereitende Lektüre durchgearbeitet hat – lässt sich dieser Zusammenhang bisweilen jedoch nur schwer nachvollziehen. Doch tut dies der Tatsache keinen Abbruch, dass die Herforder Ausstellung eine Reihe von hochkarätigen Kunstwerken zeigt, die in dieser Zusammenstellung ganz und gar erstaunlich sind. Sie regen an zum Nachdenken über den Zusammenhang von Kunst und Küche. Auf der Suche nach den Gummibärchen, vermischt mit Zigarettenfiltern, Korken, Klebstoff und Farbe, wird der Besucher übrigens fündig bei Dieter Roth.
Weitere Informationen
Die Ausstellung Atelier + Küche = Labore der Sinne findet bis zum 16. September 2012 im Marta Herford statt. Der Katalog zur Ausstellung ist bei Hatje Cantz erschienen: 272 Seiten, 270 farbige Abbildungen, 39.90 Euro.
Links
Kein gegrilltes Meerschweinchen
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