Auf Messers Schneide
Auch wenn Elektrorasierer vielerorts den Standard definieren, hat die klassische Nassrasur noch lange nicht ausgedient. Im Gegenteil: Nicht nur das Rasiermesser kann sich weiterhin behaupten, sondern ebenso die Barbiersalons nach alter Schule. Vor allem in London findet der moderne Gentleman bis heute eine Fülle von Orten, an denen die Rasur als eigenständige Kultur zelebriert wird.
Zugegeben, eine messerscharfe Klinge an der Kehle zu spüren, setzt eine gewisse Portion Vertrauen voraus. Umso mehr, wenn diese nicht von der eigenen Hand geführt wird, sondern von einer wildfremden Person. Erinnerungen an Sergio Leones Western-Klassiker „Spiel mir das Lied vom Tod“, bei dem der Gang zum Barbier einen beinahe verhängnisvollen Ausgang nimmt, sind durchaus verständlich. Gibt es eine Situation, in der Mann sich ähnlich ausgeliefert fühlen muss?
Nach alter Schule
Mut zu beweisen, ist jedoch nicht der einzige Grund, warum sich ein Barbierbesuch noch immer lohnt. Es ist das Ritual an sich, das die morgendliche Pflichtübung in ein kultiviertes Erlebnis verwandelt und noch immer nach traditionellen Mustern verläuft, als wäre die Zeit vor einhundert Jahren stehen geblieben. Doch mit Nostalgie allein hat es nicht zu tun. Schließlich erreichen Elektrorasierer – allen Weiterentwicklungen der letzten Jahrzehnte zum trotz – noch immer nicht die Präzision einer klassischen Nassrasur. Sich von einem professionellen Barbier mit einem Rasiermesser den Bart stutzen zu lassen, ist eine Erfahrung, die es wert ist.
Zuflucht auf der Insel
Doch damit beginnt zugleich das Problem, denn gerade in Deutschland sind die meisten Barbiere längst verschwunden. Dass sich in London währenddessen eine veritable Barbierkultur erhalten hat, überrascht nicht. Schließlich wird Tradition in der britischen Hauptstadt noch immer groß geschrieben. Die Stadtteile Mayfair und St James sind nicht nur das Zentrum der exklusiven Gentlemen-Clubs, sondern bieten ebenso eine Dichte an erstklassigen Barber-Shops und Herstellern hochwertigen Rasierzubehörs, die weltweit einmalig ist.
Sinn für Tradition
Die Rolle des Platzhirsches nimmt hierbei der Salon von Truefitt & Hill in der St James‘s Street ein. Gegründet im Jahr 1805 ist er nicht nur der wohl älteste Barbiersalon der Welt, sondern zugleich auch offizieller Barbier des britischen Königshauses. Die beiden Schaufenster, die bis an den Rand mit Rasierpinseln aufgefüllt sind, geben einen Vorgeschmack auf die noch größere Auswahl an Pinseln, Rasierern, Rasierseifen, Parfums und Aftershaves, die in dem charmant altmodischen Geschäft erworben werden können und allesamt noch immer auf traditionelle Weise in England hergestellt werden. Im hinteren Raum, getrennt durch einen dunkelblauen Stoffvorhang, wartet das Heiligtum des Salons: zwei ledergepolsterte Stühle mit einer beeindruckenden Unterkonstruktion aus Metall, die so antiquiert aussehenen wie die Requisiten einer frühen Verfilmung von „20.000 Meilen unter dem Meer“.
Nach klassischer Methode
Wer sich davon nicht abschrecken lässt und schließlich Platz nimmt, erfährt die immer gleiche Prozedur: Da die Rasur am besten dann funktioniert, wenn die Haut feucht ist – morgens nach der Dusche ist der beste Zeitpunkt für die Rasur zuhause – wird ein mit heißem Wasser getränktes Handtuch über den Bart und das gesamte Gesicht gelegt. Als nächstes folgt die Behandlung mit einem Pre-Shave-Öl, das die Haare zusätzlich aufrichtet und die Präzision der Rasierklinge spürbar verbessert.
In der Zwischenzeit wird mit einem Rasierpinsel die Rasierseife zu einem cremigen Schaum geschlagen. Auch hier geht die Bandbreite von Form, Größe und Qualität der Pinsel weit auseinander. Zum Einsatz kommt nur echtes Dachshaar, das nach drei Qualitäten unterschieden wird: „Pure Badger“ aus einfachen Haaren, „Best Badger“ mit einem Anteil jener hochwertigen Rückenhaare, die über eine markante silberne Spitze verfügen. Und schließlich „Super Badger“, die sich ausschließlich aus den weichen Silberspitzen zusammensetzen, die aus dem Winterfell des Dachses gewonnen werden.
Mit dem richtigen Schlag
Der Unterschied zwischen einem Rasierschaum, der mit einem Pinsel geschlagen wurde und einem Schaum aus der Dose ist beachtlich. Vergleichbar sind die Qualitäten mit der Herstellung von Schlagsahne. Wer einmal selbstgeschlagene Sahne zum Kuchen probiert hat, kann die Version aus der Dose zeitlebens nicht mehr anrühren. Der Rasierschaum wird anschließend in kreisenden Bewegungen auf den Bart gestrichen, um so die Aufrichtung der Haare weiter zu unterstützen.
Anschließend kommt das Rasiermesser zum Einsatz. Es wird an einem ledernen Streichriemen entlanggeführt, um den Grat der Klinge optimal aufzurichten. Die Bewegung erfolgt in kurzen Zügen stets mit und nie gegen den Bartwuchs, um Entzündungen zu vermeiden. Der Umgang mit dem Rasiermesser will gelernt sein und sollte – wenn man es auch daheim benutzen möchte – dringend unter professionellem Rat erprobt werden. Denn anders als bei modernen Klingensystemen gibt es hierbei keine Sicherung, die den Lauf der Klinge bändigt.
Die Gefahren des Alltages
An dieser Stelle Vertrauen aufzubringen, erhöht zugleich den Reiz des Rituals. Frei nach dem Motto: Wer bereits die morgendliche Rasur unbeschadet überstanden hat, den kann auch sonst nichts mehr aus der Fassung bringen. Der positive Nebeneffekt: Auch tendenziell nervöse Naturen werden sich ein wildes Herumzappeln oder gar hektische Bewegungen dringend abgewöhnen müssen und zwangsweise zur Ruhe kommen.
Nach der ersten Rasur wird das Gesicht erneut mit einem heißen Handtuch für rund dreißig Sekunden abgedeckt, bis der zweite Rasiervorgang folgt. Anschließend wird die Haut mit einem Handtuch, das zuvor mit Einswürfeln gekühlt wurde, beruhigt, bevor das Aftershave aufgetragen wird. Nicht nur Truefitt & Hill, sondern auch andere Barbiere wie Geo F. Trumper verfügen hierbei über eine große Auswahl an Cremes, Düften und weitere Pflegeprodukte, die traditionell ausschließlich aus natürlichen Zutaten hergestellt werden.
Von Pfeffer bis Johannisbeere
Auch hier bieten die Londoner Barber-Shops eine willkommene Abwechslung zu den üblichen Standard-Düften, die in den großen Parfümerieketten in Deutschland angeboten werden. Englische Klassiker sind neben Sandelholz, Mandel, Zitrus, Lavendel oder Rosenduft auch speziellere Sorten wie „Spanish Leather“ mit schweren Lederaromen oder das nicht minder exzentrische „Bay Rum“, für das würziger Lorbeer und Nelkenpfeffer zum Einsatz kommt. Neben klassischen Colognes haben Engländer auch eine Vorliebe für leicht blumige Düfte und Einflüsse exotischer Gewürze. Was für den deutschen Geschmack mitunter seltsam erscheint, beweist dennoch Stil. So eilt kein geringerer als James Bond in Ian Flemings Romanvorlagen vor jedem seiner Abenteuer in das Geschäft von Trumper, um sich einen Flakon von „Eucris“ zu besorgen. Mit einer Mischung aus Koriander, Kümmel und schwarzer Johannisbeere ist die Basis gefunden, um im Anschluss die Welt zu retten.
Ihr Interesse ist geweckt? Dann sollten Sie den folgenden Adressen bei Ihrem nächsten London-Aufenthalt unbedingt einen Besuch abstatten:
Die richtigen Adressen
Truefitt & Hill – 71 St James's Street, London SW1A 1PH (mit Barbiersalon)
Geo F. Trumper – 9 Curzon Street, London W1J 5HQ (mit Barbiersalon)
Floris – 89 Jermyn Street, London SW1Y 6JH
D.R. Harris – 29 St James's Street, London, SW1A 1HB
Taylor of Old Bond Street – 74 Jermyn Street, London SWIY 6NP
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