Biennale 2013 – Staub in der Wunderkammer
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Die 55. Kunstbiennale von Venedig zeigt sich ambitioniert: Nicht weniger als einen enzyklopädischen Palast verspricht Massimiliano Gioni – der bislang jüngste Kurator der 1895 gegründeten Institution. Was die Besucher 2013 in der Lagune erwartet, ist keine Leistungsschau der Gegenwart. Gioni spannt den Bogen bis ins frühe 20. Jahrhundert zurück und bezieht auch Arbeiten von Amateuren, Außenseitern bis hin zu Fundstücken und wissenschaftlichen Dokumentionen mit ein. Ein Rundgang durch die Hauptausstellung im Arsenale.
Ein mächtiger Turm schraubt sich in mehr als siebenhundert Metern Höhe hinauf. Seine 136 Etagen beherbergen weder Wohnungen, Büros oder Geschäfte, wie es sonst bei Gebäuden dieser Größenordnung heute üblich wäre. Der Bau, den der italienisch-amerikanische Künstler Marino Auriti (1891-1980) ersonnen hatte, sollte das gesamte Wissen der Menschheit an einem Ort zusammenbringen. Informationen wären im Inneren dieses begehbaren Lexikons in räumlichen Abfolgen gespeichert worden, während die Immaterialität des Wissens ein weithin sichtbares, architektonisches Zeichen erhalten hätte. Auriti ging sogar so weit, seine Idee 1955 in den USA patentieren zu lassen – als erstes und bislang einziges Kunstwerk.
Jenseits glänzender Hüllen
Ein knapp fünf Meter hohes Modell, das Marino Auriti von seinem enzyklopädischen Palast anfertigt hatte, bildet den Auftakt der 55. Kunstbiennale von Venedig. Chef-Kurator Massimiliano Gioni übernahm nicht nur den Titel von Marino Auritis Vision, sondern ebenso ihren umfassenden Anspruch. Anstatt einen Querschnitt durch die Kunst der Gegenwart zu zeigen, spannt seine Schau den Bogen ins frühe 20. Jahrhundert zurück und bezieht neben Werken bekannter Namen ebenso Amateure, Außenseiter bis hin zu Fundstücken und wissenschaftlichen Dokumentionen mit ein. „Unter all den Arbeiten findet sich kein einziges Objekt aus Edelstahl“, verkündet Gioni stolz auf der Pressekonferenz am ersten Preview-Tag. In einer Mischung aus Museum und Kuriositätenkabinett sollen weit mehr als glattgeschliffene Objekte für die Sammlerwelt präsentiert werden. Der künstlerische Leiter des New Museums in New York sowie der Fondazione Nicola Trussardi in Mailand will die Besucher auf eine Entdeckungsreise mitnehmen.
Die Faszination für das Sonderbare wird bereits im ersten Raum des Arsenale deutlich, wo auch Marino Auritis hölzernes Turmmodell zu sehen ist. An den Wänden reihen sich die Aufnahmen des Fotografien J.D. ‘Okhai Ojeikere, der in den siebziger bis neunziger Jahren die Frisuren seines Heimatlandes Nigeria dokumentierte. Ganz gleich, ob das Haar geknotet, geflochten oder getürmt wurde: Die Fotos offenbaren vergängliche Kunstwerke, die oft nur für bestimmte Anlässe getragen wurden und mit ihren komplexen Formen dem zurückhaltenden Portrait-Stil der Schwarzweißaufnahmen entgegentreten.
Menschliche Abbilder
Als eine Schule des Sehens entpuppen sich die Fotografien von Eduard Spelterini (1852-1931). Der Schweizer Ballonfahrer überflog als erster Mensch 1898 die Alpen und dokumentierte seine Expeditionen ab 1893 mit einer mehr als vierzig Kilogramm schweren Großformatkamera. Die Aufnahmen, die heute wie banale Postkartenmotive erscheinen, waren zu ihrer Entstehungszeit um 1900 eine Sensation. Nicht nur Alpenpanoramen wurden von Spelterini zum ersten Mal aus der Vogelperspektive festgehalten, sondern ebenso europäische Hauptstädte bis hin zu den Pyramiden von Gizeh.
Der suggestiven Kraft der Fotografie widmet sich ein eigener Abschnitt im Arsenale, der von Cindy Sherman kuratiert wurde und ebenfalls den Blick auf die Geschichte nicht verfehlt. In den Jahren 1913 bis 1923 arbeite der Berliner Modefotograf Karl Schenker keineswegs nur mit Mannequins, sondern ebenso mit täuschend echt aussehenden Wachsfiguren. Die Puppen wurden von ihm eigenhändig angefertigt und mit Perücken und Make-Up derart in Szene gesetzt, dass die menschliche Illusion gelang. Befremdlich wirken The Actual Photos (1985) von Allan McCollum und Laurie Simmons. Die Aufnahmen zeigen Portraits von Modelleisenbahn-Figuren, die unter dem Mikroskop stark vergrößert wurden. Da die Gesichter im Original kaum größer sind als Stecknadelköpfe, wirken sie in lebensgroßer Nahaufnahme seltsam deformiert.
Beobachter der Beobachter
Unter die Haut geht das 25-minütige Video Da Vinci (2012) von Yuri Ancarini, das von Maurizio Cattelan produziert wurde. In bildgewaltigen Sequenzen wird eine Bauchspiegelung gezeigt, für die ein Roboter mit einer hochauflösenden Mikrokamera zum Einsatz kam. Selten war der menschliche Körper in derart hoher Farbqualität und Präzision zu erkennen – eine Wirkung, die durch den Verzicht auf blutige Schauereinlagen noch gesteigert wird. Die Operation gleicht einer sorgsam einstudierten Choreographie, bei der die Arme der Maschine mit der Geschmeidigkeit und Eleganz von Tänzern agieren. Die Stärke der Arbeit liegt in der Verdrehung der Perspektive: Der Einblick erfolgt nicht von außen, sondern beginnt direkt im Inneren des Körpers, der in psychedelischen Farben leuchtet wie eine Raumschiffkapsel in einem Science-Fiction-Film. Wenn plötzlich ein Skalpell durch die Bauchdecke dringt und den technischen Instrumenten Einlass gewährt, beginnt ein faszinierendes Schauspiel, das die stärksten Bilder dieser Biennale liefert.
Eine sonderbare Entdeckung machte der japanische Werbefotograf Kohei Yoshiyuki in einer Sommernacht des Jahres 1970: Ein junges Paar, das in den Büschen eines Tokioer Parks intim wurde, war von einer Gruppe Schaulustiger dicht umringt. Yoshiyuki erwarb daraufhin mehrere Überwachungskameras und installiert sie in drei verschiedenen Parks. Nachdem er das Verhalten der Paare und ihrer Beobachter analysiert hatte, machte er sich schließlich selbst auf den Weg, die Szenen mit seiner Kamera aus unmittelbarer Nähe festzuhalten. Auf einigen Fotos kommen die Voyeure den Paaren extrem nahe und berühren sie mit ausgestreckten Armen, sodass auch sie zu Akteuren werden. Als die Aufnahmen erstmals 1980 in einer Tokioer Galerie gezeigt wurden, ließ sie Kohei Yoshiyuki auf Lebensgröße abziehen und den Ausstellungsraum abdunkeln. In einer verkleinerten Wiedergabe sind die Fotos nun im Hauptpavillon der Biennale in den Giardini zu sehen.
Bühnen des Alltags
Im Wechselspiel aus Realität und Projektion stehen die Sondermodelle von Oliver Croy und Oliver Elser. Was sich dahinter verbirgt, ist ein Forschungsprojekt, das 1993 mit einem ungewöhnlichen Fund begann. Zu diesem Zeitpunkt erwarb Oliver Croy bei einem Wiener Altwarenhändler 387 Architekturmodelle, die von dem Versicherungsangestellten Peter Fritz angefertigt worden waren. Was ihn zum Bau der Mikroarchitekturen bewogen hatte, ließ sich nicht mehr in Erfahrung bringen, da Fritz bereits verstorben war. Dennoch gingen Croy und Elser den Ursprüngen der Modelle weiter auf den Grund, die trotz erkennbarer Analogien zu bestehenden Gebäuden reine Phantasiegebilde sind. Anstatt die gebaute Umgebung lediglich zu imitieren, hat sie Peter Fritz mit seinen Modellen idealisiert.
Die spannenden Momente der Schau passieren genau an dieser Stelle, wo die Grenze zwischen Wirklichkeit und Fiktion verschwimmt. Nicht nur die Abbildung der realen Welt steht im Mittelpunkt, sondern ebenso ihre Fantasien, Sehnsüchte und Träume. Dass Massimiliano Gioni – mit 40 Jahren immerhin der jüngste Kurator der Biennale-Geschichte – den Blick vor allem in die Geschichte richtet, nimmt seinem Vorhaben jedoch ein Stück weit den Wind aus den Segeln. Sein „enzyklopädischer Palast“ ist keine Schnittstelle, an der sich Wissenschaft und Künste gegenseitig neue Impulse geben. Die Dinge erscheinen oft isoliert voneinander und werden im angestaubten Gestus eines Museums aus dem 19. Jahrhundert serviert. Der Gedanke eines himmelsstürmenden Wissensturms, den sich Marino Auriti einst patentieren ließ, ist dennoch keine Utopie geblieben. In den Weiten des World Wide Web ist der „enzyklopädische Palast“ auch ohne bauliche Hülle längst Realität geworden.
Links
La Biennale di Venezia
www.labiennale.orgKunstbiennale 2011
www.designlines.deMehr Stories
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