Stories

Bissige Kelche und fliegende Untertassen

von Norman Kietzmann, 14.10.2010


Es ist weiß, es ist weich und es leitet Wärme besser als jedes andere Material. Auch wenn Silber im Alltag immer seltener eine Rolle spielt, hat es deswegen noch lange nicht ausgedient. Während Silberschmiede in der Toskana opulente Szenen auf dem Tisch inszenieren, probt eine neue Generation von Silberschmieden den puristischen Aufstand.



Mit Silber, könnte man meinen, vergeht die Zeit schneller. Schließlich ist Vergänglichkeit dem Material von Natur aus mitgegeben. Können frisch geschnittene Silberstücke ganze 99,5 Prozent des sichtbaren Lichts reflektieren und machen es somit zum „weißesten“ aller Metalle, braucht es kaum mehr als den Kontakt zur Luft, um dessen empfindliche Oberfläche zum Oxidieren zu bringen. Während die markante, schwarze Patina vor jedem Festessen unweigerlich zu Panik führt – so mancher Gast könnte die dunklen Stellen womöglich als Dreck identifizieren oder den Gastgebern zumindest mangelnde Pflege attestieren – verleiht sie den silbernen Objekten zugleich ihren Charme. Sie sind ein Stück Vanitas für den Alltag – und damit alles andere als überholt.

Dünner als Papier


Silber erfüllt auf diese Weise nicht nur einen allegorischen Sinn, sondern bietet ebenso in seiner Verarbeitung Eigenschaften, die mit anderen silberfarbenen Metallen wie Stahl oder Aluminium kaum zu erreichen sind. Dass es hierbei vor allem im Schmuckbereich seine Rolle behalten hat, verdankt es seiner hohen Dehnbarkeit und Weichheit. Silber lässt sich zu feinen, durchschimmernden Folien aushämmern, die lediglich über eine Stärke von 0,0002 Millimeter verfügen und damit dünner sind als Papier. Gleichzeitig kann es zu Fäden gedehnt werden, die auf zwei Kilometern Länge gerade einmal ein Gramm auf die Waage bringen – und zwar für das gesamte Kabel. Als das am besten Wärme und Elektrizität leitende Material der Welt kommt Silber auch dort zum Einsatz, wo man es zunächst kaum erwartet: in elektronischen Geräten oder – aufgrund seiner hohen Lichtempfindlichkeit – bei der Entwicklung von fotografischen Filmen.

Hat deren Stunde in Zeiten der digitalen Fotografie längst geschlagen, formt sich derzeit eine neue Generation von Silberschmieden, die längst nicht nur im Schmuckbereich nach zeitgenössischen Lösungen suchen, sondern ebenso den Tisch mit eindrucksvollen Vasen, Kelchen oder Schalen ausstaffieren. Wird derzeit im Möbel- und Objektbereich beinahe schon krampfhaft versucht, das Handwerk in den Produktionsprozess zurückzuholen, gehört es in der Verarbeitung von Silber seit jeher dazu. Kein Wunder also, dass das leicht angestaubte Material wieder stärker in den Fokus rückt.

Grenzen des Materials

Vor allem in Großbritannien und Dänemark hat sich derzeit eine Szene von jungen Silberschmieden entwickelt, die mit ihren schwebend leichten Tischobjekten den wuchtigen Etageren aus Omas Zeiten bewusst den Krieg erklärt. Anstatt auf Volumen und Gewicht zu setzen, wie es früher aus Prestigegründen bei Silberwaren üblich war, bringen sie das Material an die Grenzen seiner Belastbarkeit. Dass hierbei eine Schale keineswegs als massives Volumen in Szene gesetzt werden muss, zeigt beispielsweise die dänische Silberschmiedin Sidsel Dorph-Jensen. Den Raum, den ihre Schale Square lamellar dish unterhalb ihrer leicht unebenen Bodenplatte bildet, staffierte sie mit filigranen, in Falten geschlagenen Silberblättern aus, die an einen drappierten Stoff erinnern. Die Kühle des Metalls wird auf diese Weise in eine fast schon befremdliche Leichtigkeit übersetzt.

Diese ins Extrem zu steigern, gelang dem Londoner Silberschmied Lucian Taylor. Dessen Schale Almost There erinnert an einen Haufen gebogener Nadeln, die zu einer halbkugelförmigen Schale verbunden wurden und trotz ihres zerbrechlichen Eindrucks keineswegs auseinander zu fallen drohen. Geschlossen und dennoch filigran zeigen sich unterdessen die Schalen des englischen Silberschmieds Don Porritt aus West Yorkshire. Die Wandstärken seiner Schalenserie forms with overlap detailing reduzierte er derart, dass sie beinahe an Papier erinnern. Anders als ihre dünnwandigen Pendants aus Porzellan, die derzeit unter Töpfern besonders hoch im Kurs stehen, können Arbeiten aus Silber übrigens nicht zerbrechen, sondern lediglich eindellen. Mit etwas Geschick oder fachkundiger Hilfe lassen sich so selbst schwer ramponierte Gegenstände problemlos wieder in Form bringen. 

Silberne Raumschiffe

Während traditionelle Silberschmieden wie das Pariser Haus Christofle zurzeit versuchen, sich mit Entwürfen von Designern wie Richard Hutton oder Karim Rashid zu verjüngen – letzterer hat mit Urban Facet eine auf 20 Stück limitierte Serie von blätterartigen Schalen gestaltet – haben andere Designhersteller bereits in den achtziger Jahren auf Silber gesetzt. So führt das Mailänder Möbellabel Sawaya&Moroni längst eine eigene Silber-Kollektion, die kontinuierlich um neue Entwürfe ergänzt und unter anderem Klassiker wie den fünfarmigen Leuchter Quinto von Oswald Mathias Ungers im Programm führt.

Ein wahres Manifest in Silber hat unterdessen Alessi im Jahr 1983 gewagt und für die Serie Tea & Coffee Piazza unter anderem Entwürfe von Alessandro Mendini, Charles Jencks oder Aldo Rossi veröffentlicht. Waren es zu jenem Zeitpunkt die einstigen Vorreiter der Postmoderne, folgte zwanzig Jahre später eine Neuauflage unter dem Namen Tea & Coffee Towers. Diese versammelt mit Entwürfen von Zaha Hadid, Morphosis, Asymptote, Greg Lynn oder UN Studio die Avantgarde des Computer basierten Entwerfens, die ihre Arbeiten zwar weniger aus der Materialität von Silber heraus entwickelten, dafür jedoch einen spannenden Kontrast zwischen ihrer digitalen Planung und handwerklichen Umsetzung erzeugen. Gefertigt werden die Sets, die sich preislich zwischen 20.000 und 70.000 Euro bewegen, übrigens nur auf Nachfrage.

Metallene Stillleben

Wem all dies zu neumodisch ist, dem sei unterdessen der Weg in die Toskana empfohlen. Zwischen Florenz und Arezzo hat sich bis heute eine veritable Szene an Manufakturen gehalten, deren Silberarbeiten jedes Dinner in ein wahres Ereignis verwandeln. Alligatoren räkeln sich als Griffe, Riesengarnelen erklimmen Becher oder – ausgebreitet in der Mitte des Tisches – bestimmen lebensgroße Riesenkrabben, Gänse oder ganze Fruchtkörbe das Geschehen, die zugleich als Gefäße für Speisen dienen. Parallelen zur heutigen Formensprache sind dabei keineswegs ausgeschlossen. Denn erinnern die silbernen Muscheln und Meerestiere, die Manufakturen wie Giovanni Raspini im Programm führen, nicht auch an die fließenden Ufo-Formen von Zaha Hadids Tea & Coffee Towers? Avantgarde, und das gilt bei weitem nicht nur für Silber, gab es bekanntlich schon früher.
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Links

Giovanni Respini

www.raspini.it

Christofle

Sidsel Dorph-Jensen

www.dorphjensen.com

Abigail Brown

www.abigailbrown.co.uk

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