Bitte nicht entsorgen!
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Kaufen, Nutzen, Wegwerfen: Der Lebenskreislauf der Objektwelt verläuft in immer engeren Kreisen. Unsere Produkte werden nur allzu oft wegen einer gebrochenen Schraube oder einer ausgeleierten Feder in Rente geschickt. In Hinblick auf die Entwicklungszeit mancher Produkte und den Aufwand, der bei der Produktion betrieben wird, ist dieser Umgang sowohl ethisch fragwürdig, als auch in Bezug auf die Nachhaltigkeit skandalös. Doch wohin soll man etwa einen lädierten Bürostuhl in Reparatur geben? Nur wenige Hersteller bemühen sich heute noch um ein umfangreiches Ersatzteilsortiment, geschweige denn einen maßgeschneiderten Service. Einer davon ist der Möbelhersteller Girsberger: Er repariert und saniert in die Jahre gekommene Stühle und zwar nicht nur für den einzelnen Privatkunden, sondern auch im Objektbereich. Zuletzt hat das Unternehmen aus dem schweizerischen Langenthal die Bestuhlung im Theater Basel, im Parktheater Grenchen und in der Konzerthalle Bad Salzuflen restauriert.
Das Problem beginnt im Grunde schon bei der Produktion. Wo Fließband und maschinelle Produktion den Herstellungsprozess bestimmen, da fehlen Ressourcen für maßgeschneiderte und zeitintensive Reparaturen. Überhaupt kennen die wenigsten Arbeiter an industriellen Fertigungsstraßen den gesamten Herstellungsprozess: Sie sind Spezialisten eines Arbeitsschritts, nicht eines Handwerks. Wer sich wiederum mit einem Reparaturgesuch an einen Spezialisten wenden will, muss schnell erkennen, dass nur wenige heute noch eine Aufarbeitung anbieten und diese wenigen schwer zu finden sind.
Vom Drehstuhl zum Freischwinger
Bei Girsberger ist das anders. Um zu verstehen, wie das Unternehmen, das vorwiegend im Objektbereich tätig ist und sich auf die Produktion von Sitzmöbeln spezialisiert hat, zu seiner außergewöhnlichen Haltung gekommen ist, lohnt sich ein Blick auf seine Geschichte. Gegründet wurde die Firma 1893 von Heinrich Girsberger als Werkstatt mit einer dampfbetriebenen Drechselmaschine. Anfang des 20. Jahrhunderts begann man mit mit der Produktion von ersten Stühlen, höhenverstellbaren Pianohockern. Die Weichen waren gestellt und es entwickelte sich eine Kollektion mit reduzierter Formensprache und klaren Linien. Von Girsberger produzierte Stühle wurden zunächst von anderen Untermehmen – beispielsweise von Knoll – vertrieben, später konzentrierte man sich auf die eigene Produktpalette. Bis heute stellt Girsberger seine Möbel in beiden Ländern her, in denen die Firma ihre Standorte unterhält: in Deutschland und der Schweiz. Outsourcing, Asien, Billiglöhne – davon hält man bei Girsberger nicht viel.
Remanufacturing statt Recyclinghof
Heute führt Michael Girsberger das Unternehmen – in vierter Generation. Und mit dem Unternehmen selbst wird immer auch die firmeneigene Philosophie weitergegeben. Was als Drechslerei begann, ist heute ein international agierender Produzent, der sich dem Handwerk noch immer verpflichtet fühlt und sich selbst als Dienstleister versteht. Und diesem Dienstleister liegen nicht nur die eigenen Erzeugnisse am Herzen: Was der Kunde liebgewonnen hat, soll er auch be- und erhalten dürfen. Und deswegen repariert Girsberger nicht nur Girsberger, sondern nutzt seine Kompetenzen im Metallbau, in der Polsterei und der Oberflächentechnik, um jeden persönlichen Klassiker wieder aufzubereiten. Remanufacturing nennt man das hier und gibt auf die Instand gesetzten Möbel noch einmal zwei Jahre Garantie. Damit hat sich Girsberger nicht nur dem Kunden verschrieben, sondern vor allem der Nachhaltigkeit.
Grenchen, Basel, Bad Salzuflen
Dieses spezielle Angebot nutzen nicht nur Privatpersonen. Auch Kunden im Objektbereich sind dankbar für die Möglichkeit einer Restaurierung von Bestandsbestuhlung. Allein im Jahr 2010 hat Girsberger drei Großprojekte umgesetzt: Eine Konzerthalle in Bad Salzuflen, das Theater Basel und das Parktheater Grenchen ließen ihre Stühle von Girsberger aufbereiten. Als Veranstaltungsort wollte man hier bei Renovierungsmaßnahmen besonders sensibel vorgehen und war bemüht, den besonderen Charakter der Orte mit ihrer Geschichte und Ästhetik zu erhalten. Solche Aufgaben bergen besondere Herausforderungen. Im Theater Basel bezog Girsberger 458 Klappsitze innerhalb von acht Wochen neu – mit vier Millimeter starkem Kernleder. Dies hat sich bewährt – schließlich hatte dieses Material bereits über dreißig Jahre der täglichen Beanspruchung Stand gehalten. Leder in dieser Qualität und vor allem in diesen Mengen ist jedoch nicht allzu leicht zu beschaffen. Normales Bezugsleder, wie es etwa bei Sofas verwendet wird, ist in der Regel nur etwa anderthalb Millimeter dick, die benötigten vier weisen nur ausgesuchte Bullenhäute auf. In Zusammenarbeit mit einer hessischen Gerberei konnte das Leder dann aber doch zeitnah aufgetrieben werden – und wurde sanft eingefärbt, um die Patina der bisherigen Bezüge anzudeuten.
Einen beeindruckenden Umfang hatte auch das Projekt der Konzerthalle Bad Salzuflen. Hier wurden 1.100 Stühle neu gepolstert – Ab- und Rücktransport inklusive. Nicht nur eine logistische Herausforderung, sondern auch eine handwerkliche. In der Produktionsstätte in Endingen wurden alle alten Polster und Schaumstoffe entfernt, sortiert und entsorgt, danach wurden neue Schaumteile auf die Schalen geklebt und neue Bezüge genäht.
Eine zweite Chance
Der Erfolg, den Girsberger mit seiner ökologischen Arbeitsweise und seinem besonderen Service aufweisen kann, gibt dem Unternehmen Recht. Was uns Unternehmensprofile wie das von Girsberger darüber hinaus vermitteln, ist eine andere Wahrnehmung der Objektwelt. Ein Abschied von der ewigen Konsumschleife, der nicht aus der direkten Notwendigkeit entsteht, sondern aus der Achtung vor den Dingen, ihrer Entwicklung und ihres Werts, der über den rein materiellen hinausgeht. Daraus kann sich eine vorbildliche Haltung entwickeln, wie man sie etwa auch in Mangelgesellschaften findet: Auf die Frage, warum ein schon lange nicht mehr intakter Gegenstand aufgehoben werde, würde beispielsweise ein Kubaner, der ihn nicht einfach durch Neukauf ersetzen kann, nie antworten, er sei kaputt. Stattdessen ist er immer „gerade in Reparatur“.
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