Carlo Mollino: Maniera moderna
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Der Turiner Architekt Carlo Mollino (1905-73) gilt als ein Außenseiter seiner Generation und Midas des ästhetischen Lebens: Er brillierte in allen Disziplinen. Seine Karriere als Architekt begann und beendete er mit einem realisierten Wettbewerbsgewinn, für seine Möbel (deren Originale heute Millionenbeträge erzielen) entwickelte er eine patentierte Technik zur kalten Verformung von Sperrholz; er war leidenschaftlicher Fotograf und ein ebenso begnadeter Skifahrer wie Rennfahrer und Pilot. Er arbeitete mit Mitteln aus unterschiedlichen Sphären von Kunst und Alltag, einem „modernen Manierismus“, der in einer Ausstellung in München nun erstmals als offenes Gesamtwerk zu erleben ist. Chris Dercon und das Haus der Kunst widmen Mollino mit „Maniera moderna“ eine umfassende Schau, die das Werk des Architekten jenseits seines Images – wahlweise als gran irregolare, holy madman oder Dandy – inhaltlich neu verortet.
Die letzte Zeugin ist 93 Jahre alt. Sie hat sich einen geflochtenen Zopf von den Dimensionen eines Bootstaus um den Kopf gewickelt und sagt Sätze wie: „Auch seine aerodynamischen Zeichnungen sind etwas, das funktioniert wie Bomben werfen, um zu sehen, was passiert.“ Oder: „Er war ein Mensch, der nie in die Tiefe ging. Wenn du ihm von Architektur erzähltest, sprach er von Rudolf von Laban, wenn du von Rennen sprachst, sprach er vom Montblanc. Turin ist eine Stadt, in der es wichtig ist, sich zu tarnen. Sich tarnen heißt: keinem Verlag, keiner Fakultät oder einem festgelegten Kodex oder einer politischen Richtung anzugehören. Natürlich hätte es ihm gefallen, ein Tänzer des Bolschoi zu sein. Was wissen wir schon davon, wer wir sind?!“
Die letzte Zeugin heißt Carol Rama. Sie war eine Freundin Mollinos und hat in ihrem Leben mindestens genauso viele Geschlechtsteile gemalt wie Mollino abgelichtet hat. Ihre Offenheit macht sie zu einer glaubwürdigen Zeugin. Das Interview mit ihr für das italienisch-schweizerische Fernsehen ist die zweite Station des Rundgangs im Haus der Kunst – nach dem erstaunlich kleinen roten Rennauto Bisiluro, das Mollino mit Mario Damonte und Carlo Graffi entwickelte –, bevor es die Treppe hinauf in die großen Ausstellungssäle im ersten Stock geht.
Choreografien
Choreografien ist die Überschrift der ersten Werkgruppe Mollinos, die die Kuratoren Wilfried Kuehn und Armin Linke dem Besucher hier vorstellen. Der Bezug zum Tanz in Mollinos Werk ist offensichtlich vor dem Hintergrund, dass Mollino vertraut war mit den Laban-Notations, der ersten „Schrift“ für die Aufzeichnung tänzerischer Bewegungen des gleichnamigen russischen Choreographen. Mollino entwickelt daraus seine eigenen Notationen für die Beschreibung von Renn- und Flugfiguren oder Skischwüngen für den perfekten Abfahrtslauf. Hier findet man auch Fotos von Mollinos raupenartigem Bus, dem „Nube d’Argento“, der für Agip auf Promotionstour ging. Und seinen Entwurf für ein Apartment-Haus in San Remo, das aussieht wie eine Formel-Eins-Tribüne. Wer sich angesichts dessen fragt, ob Mollino nicht doch ein Vertreter des Maschinen- und Motor-begeisterten Futurismo war, wird jedoch beim Weitergehen – und spätestens im Katalog – erfahren, dass es Mollino bei seinen Studien viel mehr um die kunstvolle Bewegung ging als um reine Geschwindigkeit.
Funktion als Tarnung
Die aus den Notationen entstehenden Linien setzt er in seinen Projekten ein und um: Als geschwungene Lichtlinie an einem Messestand oder als sich in Loopings drehende Kupferstange mit Drachenkopf und Rose, die er zur Garderobe erklärt. Dafür montiert Mollino kurzerhand eine Glasplatte über das schwungvolle „Gestell“; eine Geste, die er später bei zahlreichen Tischen wiederholt. Auch dort spielen die Untergestelle die Hauptrolle – meist Sperrholzkonstruktionen, deren organische Formen heute als Markenzeichen Mollinos gelten –, während die Glasplatte lediglich dazu dient, der skulpturalen Form eine Funktion zu geben, ohne die Sicht auf sie zu behindern. Mit der Glasplatte tarnt Mollino seine kunstvollen Skulpturen als Möbel. Gleichzeitig schützt sie das Glas wie eine Vitrine. In „Maniera moderna“ werden die Sessel mit den sprungbereiten Beinen für die Casa Minola und Casa Orengo, der „Känguru-Tisch“, der Skelett-Tisch, die Stühle und anderen figürlichen Möbel auf weißen Sockeln vor blütenweißen Wänden positioniert. So wie Mollino selbst bei der Casa Garelli eine bäuerliche Scheune versetzte, auf einen Sockel stellte und damit zum Ready Made in der Landschaft verwandelte.
Notationen im Raum
Mollino setzt seine Bewegungsgrafiken auch als implizite Handlungsanweisungen ein, wie die Leuchten an der Decke des Tanztheaters Lutrario, die Tänzer und Raum in eine spiralförmige Bewegung versetzen, nachdem die Besucher durch einen engen, irisierend gekachelten Gang in den Tanzsaal gelangt sind. Die Spiral- oder Schneckenform ist ein weiteres Motiv bei Mollino, das immer wieder auftaucht. Vielleicht ist sie nur eine Referenz an die im Manierismus beliebte Serpentinata-Figur, die auch Mollinos Favorit „sterbender Sklave“ von Michelangelo zu eigen ist, viellleicht steht sie auch für die existentiellste aller Bewegungen: das embryonale Wachstum. Mit der Zugabe, dass die Schnecke beim Wachsen ihr Haus mitbaut, jenes gleichsam zur „Versteinerung“ dieses Wachstumsprozesses wird, wie Carlo Levi es im Essay von Beatriz Colomina zur Ausstellung formuliert. Beim Betrachten von Armin Linkes Foto des Auditoriums im Teatro Regio kann man sich kaum entscheiden, ob die Logenséparées an Ammoniten erinnern oder an eine Architektur gewordene Bewegungsstudie von Eadweard Muybridge.
Bild und Bewegung
Zwei Kunstwerke der Gegenwart bilden – jeweils an den Enden des Ausstellungsparcours’ positioniert – die räumliche Klammer der Schau: Eine Projektion, auf der das Objektiv einen geschwungenen Stuhl abfährt wie eine Achterbahn. Mal langsamer, dann wieder sturzschnell, sich herantastend, schließlich wieder Abstand nehmend. Ausgestrahlt von einem 35-Millimeter-Projektor, der das Filmband nicht einfach abspielt, sondern es zahlreiche Schlaufen und Windungen durchlaufen lässt und so dem zeitlichen Ablauf des Films eine physische Dimension gegenüber stellt. Als zweites ein unbetretbarer Raum, innen mit Spiegeln verkleidet, in dessen Mitte eine fragile Skulptur hängt, ein metallenes Gewebe, das zu schweben scheint. Man sieht sie nie ganz, immer nur durch eine schmale Öffnung, immer nur im Spiegel oder als Schatten.
Die beiden Kunstwerke – Film und Projektor ”4725“ von Simon Starling, Spiegelraum und Skulptur von Nairy Baghramian – stehen programmatisch für zwei Aspekte im Werk Mollinos. Während Starling den choreografischen zum Thema macht, greift Baghramian die surrealistischen Momente in Mollinos Schaffen auf: Einerseits bezieht sie sich mit dem Titel „Teestube“ direkt auf eine Installation von Mollino und seinem Freund Italo Cremona mit dem Titel „Teestunde“ (1935). Andererseits schafft sie mit dem Spiegelraum einen Bezug zu Mollinos Interieurs, in denen die Anordnung zahlreicher Spiegel den „Bewohner“ zur ständigen Selbstreflektion zwingt und die er zur Komposition surrealer Bildwelten nutzt. So wie Mollino in seinen performativen Bauten Teatro Regio und Lutrario das Publikum selbst zum Darsteller werden lässt. In den Innenräumen seiner beiden eigens zum Fotografieren eingerichteten Wohnungen Casa Miller und Villa Zaira wird der Fotograf durch die Spiegel selbst zum Teil des Bildes, – und das Bild zum unendlichen Raum.
Postproduktion als Programm
Den Raum generiert Mollino aus der choreografierten Bewegung und dem durchkomponierten Bild. Für die Perfektion des letzteren half er mit Airbrush, Montage und Collage nach. Diese Form der Postproduktion – die auch die Publikation eigener Texte einschloss – war fast wichtiger als die Architektur selbst, schreibt Wilfried Kuehn. Bei der Ippica, dem inzwischen abgerissenen Reitclub in Turin, retuschierte Mollino störende Häuser weg und montierte Fotos von Pferden und Reitern vor das Gebäude, das selbst schon eine Collage aus unterschiedlichsten Materialien und Mustern war.
Performance
In der Ausstellung stört kein Schriftzug das durchkomponierte Bühnenbild, das den Besucher beim choreografierten Tanz durch die Schau begleitet. Die Anordnung der Vitrinen und die Hängung der Exponate schickt den Besucher zunächst im Zick-Zack-Kurs zwischen Wand und Raumachse hin und her. Die einzigen Texte sind Mollinos eigene, die neben seinen Zeichnungen, Plänen und Fotos in den Arbeitstischen ähnelnden Vitrinen liegen. Hier und in einem kleinen Beiheft, das wie ein Reiseführer die einzelnen Stationen der Schau erklärt, kann man die Referenzen und den Kontext der gebauten Architektur Mollinos nachvollziehen, während an den Wänden der fotografische Essay von Armin Linke den aktuellen Zustand der Gebäude zeigt – in ihrer Aneignung ebenso wie in ihrem Verfall. Da sieht man eine etwas schrille Kapelle auf der mosaikverkleideten Bühne des Lutrario, der Zuschauerraum gefüllt unter den bunten Lampions der Lichterschnecke; ein Plastikspielhaus als eigenwilliges Surrogat direkt neben der Casa Garelli, das fast unveränderte Mobiliar der Casa del Sole, einen Blick über Turin im Nebel vom Dach des Teatro Regio und die eingeschneite Furggen-Seilstation.
Bei der Reitschule darf der Ausstellungsbesucher eine Volte drehen, kurz in die „Teestube“ hineinschauen, dann geht es zurück bis zur großen Halle, in der man sich zwischen den zoomorphen Möbeln und kleinen Skulpturen frei bewegen kann wie auf einer großen Wiese. Im nächsten Raum wird die Bewegung abgebremst durch Projektionswände, hier werden Mollinos Interieurs vorgeführt, eine Seitenwand verdeckt diskret die verruchten Polaroids; um sie zu sehen, muss man die Bühne verlassen. Darauf folgt der Raum der „Aneignung/Appropriation“, in denen Mollinos Wandbilder zu sehen sind, die wieder neue Bedeutungsräume öffnen. Hier findet man auch Mollinos Gebrauchsmöbel, und hier wird auch die Schnittmuster-Technik gezeigt, nach der er seine Möbel baute. Und zum Schluss, direkt vor der Treppe nach unten, die Installation von Simon Starling.
Am Ende des Parcours’ fragt man sich, ob die Kuratoren nicht doch irgendwo eine Kamera versteckt haben, die die Bewegung der Ausstellungsbesucher filmt, die sie über ihre Bühne schicken. Wundern würde es einen jedenfalls nicht, schließlich ist man längst Teil ihres Kunstwerks.
Ausstellung: bis 8. Januar 2012, geöffnet Mo–So 10–20 Uhr, Do 10–22 Uhr
Ort: Haus der Kunst, Prinzregentenstraße 1, 80538 München
Katalog zur Ausstellung:
Carlo Mollino: Maniera Moderna
Verlag der Buchhandlung Walther König, 9/2011
Katalog, herausgegeben von Chris Dercon, München 2011
Fotografien von Armin Linke. Text von Luca Cerizza, Beatriz Colomina, Kurt Forster und Wilfried Kuehn.
312 Seiten mit 396 (181 farbigen) teils ganzseitigen Abbildungen, broschiert, Text in englischer Sprache
Bestell-Nr: 1468556, ISBN: 978-3-86335-020-8, Preis: 35,00 Euro
www.buchhandlung-walther-koenig.de
Links
Ausstellung
www.hausderkunst.deBauNetz-Meldung
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