Das Ende des Papierkriegs
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Eine papierlose Welt? Oder zumindest eine ohne Bücher, Zeitschriften und Kopierpapier-Berge? Das ist es, das Hersteller und Anhänger moderner Lesegeräte prognostizieren. Mit Tablet-PCs , sogenannten Readern oder den flinken Netbooks soll das Analoge passé sein. Die einen schmerzt der drohende Verlust eines Kulturguts, die anderen sind dankbar dafür, endlich keine Bücherberge mehr archivieren zu müssen, schwere Kataloge zu wälzen oder sich im Urlaub mit besorgtem Blick auf den Reisekoffer auf zwei Schmöker zu beschränken. Die Medaille hat wie immer zwei Seiten. Aber: Wie realistisch ist der Verlust von Papier und Druckwerk? Es ist an der Zeit, jetzt schon einmal alle düsteren Prognosen und freudigen Vorhersagen auf den Prüfstand zu stellen.
Schon einmal hat sich eine digitale Revolution angekündigt – und scheiterte zumindest im Hinblick auf den Zellulose-Konsum. Denn als der Computer die Büros eroberte, eine digitale Archivierung von Daten möglich wurde und Bildschirm und Internet papierlosen Schriftverkehr möglich machten, da erwartete man auch eine positive Auswirkung auf den Papierverbrauch und die Umwelt. Doch das Gegenteil trat ein: Wo vorher abgewogen wurde, ob ein Blatt in die Schreibmaschine eingespannt werden solle oder die Durchschrift wirklich nötig sei, herrschte auf einmal Maßlosigkeit. Der Schuldige: Kopierer, Drucker – und wir. Ein Knopfdruck und zahllose Kopien flutschen seither binnen Sekunden ins Ausgabefach.
Die emotional begründete Bindung an das Papier, Lesen, Anfassen und Umblättern ist eben doch stärker, als die Begeisterung für einen leuchtenden, hochauflösenden Bildschirm. Man hat versucht sich diese Ablehnung neben eingefahrenen Gewohnheiten vor allem über Anmutung und Handhabung zu erklären: Ein Bildschirm passte bisher eben nur schlecht in die Tasche oder unter die Bettdecke und seine Benutzung wird von vielen als Belastung für die Augen empfunden. Doch es kündigt sich ein Umbruch an. Die Hersteller von Kindle und Co. statten ihre Geräte mit einem Display aus, das das Licht wie herkömmliches reflektiert. So unterscheidet sich der Bildschirm kaum noch von Tinte auf Papier, ist vom Format aber kleiner und schlanker als die meisten Taschenbücher. Und überhaupt ist die Zukunft des Digitalen in vielerlei Hinsicht eine Reproduktion des Analogen.
Blätterwerk ade?
Der Weg zum papierlosen Zeitalter ist also bereitet und müsste nur noch beschritten werden. Und auch wenn der eine oder andere eine Welt ohne Tageszeitung und Taschenbücher für unvorstellbar hält – eine Reduktion des Papier-Wahnsinns wäre bei unserem inflationären Papierverbrauch mehr als wünschenwert. Denn den Großteil des Verbrauchs machen Produkte aus, die schnell konsumiert und dann weggeworfen werden, also Druck- und Pressepapier, Tageszeitungen, Kataloge und Magazine. Erst darauf folgen Verpackungen, technische und Hygienepapiere. Die Zahlen sind nicht nur eindrucksvoll, sondern auch schockierend: Allein in Deutschland werden im Jahr 18,5 Millionen Tonnen Papier verbraucht. Das eigentliche Problem sind allerdings nicht die Altpapierberge, sondern die Wassermassen, die für Produktion oder Recycling aufgewendet werden. Denn Papier wird mit der sogenannten Pulpe hergestellt: Feine Zellulose-Fasern werden in reichlich Wasser verrührt, dann über große Siebe gespült und getrocknet. In Deutschland fließen allein für die Herstellung von Papier 400 Millionen Liter Wasser – am Tag. Um diese Zahlen in einen verständlichen Kontext zu setzen: In Berlin werden im gesamten Stadtgebiet, von Industrie und Privathaushalten, am Tag nur ein Zehntel, nämlich gerade einmal 40 Millionen Liter, verbraucht.
Ausdrucken, Lesen, Vernichten
Die scheinbar unbegrenzte Verfügbarkeit des Werkstoffs Papier sorgt dafür, dass er in alternativen Anwendungen unterschätzt wird. Ihm haftet das Stigma eines billigen Gebrauchsgegenstands an, der in einem endlosen Kreislauf von Produktion, Konsum, Entsorgung und Recycling steckt. Produkte aus Papier, die auf Langlebigkeit ausgerichtet sind, finden sich nur selten. Und trotzdem erlebt Papier als Material in vielen Bereichen einen Aufschwung oder Neustart, der vielleicht durch den drohenden Abschied zu erklären ist. Hinzu kommt ein wieder erwachtes Interesse an grünen Themen und Nachhaltigkeit, das sich auf unser Alltagsverhalten und unsere Kaufentscheidungen auswirkt. Denn eine Umweltbelastung stellt Papier nur dar, wo es ein Wegwerfprodukt ist. Jeder längerfristige Einsatz hat den meisten Materialien gegenüber immense Vorteile in Hinblick auf die ökologische Bilanz.
Ein unbeschriebenes Blatt
Bisher hatte Papier es nicht allzu leicht, sich gegen so anpassungsfähige und langlebige Materialien wie Kunststoff oder Holz durchzusetzen. Jetzt nähert sich die Gestalter-Riege Pergament und Pappe – jedoch nicht ohne Anzuecken, denn Papier macht es den Designern nicht gerade leicht. Was auf der einen Seite eine ästhetische Qualität darstellt, ist auf der anderen ein Nachteil. Als Karton ist es anfällig gegenüber Schmutz und Wasser, als einfaches Blatt fragil. So wird der Designer zum Materialforscher und Papierarchitekten, der neue Verarbeitungstechniken entwickeln muss, oder über ausgeklügelte Konzepte für Statik sorgt. Wie poetisch und zart Papier bei gleichzeitiger Stabilität dann aber doch sein kann, lässt sich beispielhaft an der Kollektion von Molo zeigen. Die Produkte des Unternehmens sind eine Mischung aus Papierlampions und Bienenwabe, lassen sich flach verstauen, als Sichtschutz oder Bank frei formen und aufstellen und sind sehr viel belastbarer, als sie aussehen. Daneben wird das Thema Recycling prominenter und vor allem interessanter, wenn eine Direktverwertung ohne Aufarbeitung möglich ist. Beispielsweise indem ein alter Umzugskarton unter einer gebogenen Aluminiumsilhouette zum Tisch wird, oder – wie bei Muji – alte Zeitungen verwertet werden. Aufgedreht werden sie wie eine Kordel verwendet und umflechten anstelle von Sisal einen Papierkorb. Eine Technik, die man schon lange aus Entwicklungsländern kennt, die im neuen Kontext und der ausschließlichen Verwendung von Textseiten nun aber sehr viel zurückhaltender wirkt.
Diejenigen, die ein Ende von Papyrus und Co. fürchten, seien somit beruhigt. Vorerst haben wir noch die Wahl und können anwendungsbezogen entscheiden. Sich zumindest partiell von alten Angewohnheiten, vom Ausdrucken und Wegwerfen und von tagesaktuellen Nachrichten in Papierform zu verabschieden, ist näher betrachtet vielleicht doch nicht so ein großer Verlust. Denn was oft noch am gleichen Tag veraltet, muss auch nicht unbedingt archiviert werden. Hesses Gesamtwerk steht trotzem nichts im Weg. Es ließe sich aber auch auf einem watteweichen Stuhl aus Papier lesen – wenn er denn so schön ist wie Nendos Cabbage Chair.
Weitere Informationen
Noch mehr Papier gibt es derzeit in Berlin zu sehen, wo eine kleine Ausstellung die Vielseitigkeit des Materials zeigt. „Papier hat viele Seiten“ ist noch bis zum 13. März 2011 im Museum für Kommunikation zu sehen. Zur Website des Museums
Links
Museum für Kommunikation Berlin
www.mfk-berlin.deMehr Stories
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