Das Gesicht der Wahrheit
Er dient der Urerfahrung unseres Selbst, und ist für den Rest des Lebens unser alltäglicher Begleiter. Und dennoch sagt uns der Spiegel nur die halbe Wahrheit, denn er ist präzise und trügerisch zugleich.
Verstreut liegen in einem wilden Stück Natur fünf kleine Weiher. Sie sind rund in ihrer Form und fast ein wenig zu perfekt, um auf natürliche Weise entstanden zu sein. Wer sich ihnen nähert, erkennt auch schnell, dass es sich tatsächlich um eine optische Täuschung handelt: Ihre scheinbar ruhende Wasseroberfläche entpuppt sich als planes Spiegelglas, das die umliegende Landschaft reflektiert.
Spiegelnde Urbilder
Die Installation Your Glacial Expectations wurde von Olafur Eliasson gemeinsam mit dem Landschaftsarchitekten Günther Vogt für den Firmensitz des im dänischen Ebeltoft beheimateten Textilunternehmens Kvadrat entworfen. Sie fügt sich thematisch in eine Reihe anderer Werke Eliassons ein, für die er Naturphänomene mit technischen Mitteln imitiert. Bei der für das aktuelle Projekt gewählten glitzernden Oberfläche eines Gewässers handelt es sich jedoch nicht nur um ein Naturphänomen, sondern auch um eine Urform: die des Spiegels. Die ersten künstlich geschaffenen Spiegel dürften flache mit Wasser gefüllte Schalen gewesen sein und später, ab der Kupfer- oder Bronzezeit, Metalle, die zu diesem Zweck poliert wurden.
Wechselnde Welt der Eitelkeiten
Erst im 13. Jahrhundert gelang es in Deutschland, die Rückseite eines Flachglases mit einer Metalllegierung plan zu beschichten, eine Erfindung, die später in Murano perfektioniert wurde. Das Rezept für die richtige Spiegelbeschichtung aus Zinnamalgam unterlag in den Werkstätten der venezianischen Glasinsel strenger Geheimhaltung – unter Androhung der Todesstrafe. Ein in Murano hergestellter Spiegel war damals kostbarer als ein Gemälde von Rubens oder Rembrandt. Kein Wunder also, dass es viele Versuche gab, an die Rezeptur zu gelangen. Angeblich schafften es nach 150 Jahren die Franzosen unter Ludwig XIV., drei Glasbläser zu bestechen. Mit großem Erfolg, wie es scheint: Die Franzosen erfanden Ende des 17. Jahrhunderts das Plattengießverfahren, wodurch erstmals großflächige Spiegel hergestellt werden konnten.
Das Imaginäre und das Spiegelstadium
Heute ist das reine Spiegelglas kein Luxusgegenstand mehr und der Spiegel eine Konstante in unserem Alltag, sei es im Badezimmer, Auto oder Aufzug. Als Symbol ist er in zahlreichen Mythologien zu finden, beginnend mit den Griechen und dem Jüngling Narziss, der verflucht wird, sein eigenes Spiegelbild in jedem Gewässer lieben zu müssen. Zudem taucht er in vielen semiotischen und psychoanalytischen Theorien auf. Für den französischen Psychoanalytiker Jacques Lacan etwa ist der Spiegel das Objekt, durch das ein Kleinkind das erste Mal sich seiner selbst bewusst wird – eine These, die Peter Sloterdijk wiederum als Überbetonung der visuellen Urerfahrung des Selbst kritisiert.
Was aber ist überhaupt ein Spiegel? Einerseits gilt er als Zeichen der Eitelkeit und Wolllust. Andererseits symbolisiert er Selbsterkenntnis, Klugheit und auch Wahrheit. Er ist ein magisches Instrument, das eine Reflexion unseres Bildes offenbart, die präzise ist – und auch wieder nicht. Schließlich blicken wir in ihn mit gerade zugewendetem und starrem Blick, wodurch das eigentlich Charakteristische unserer Augen verlorengeht. Zudem kann er auch richtiggehend trügen, zum Beispiel durch das Verdoppeln oder Umkehren unseres Spiegelbildes.
Selbstbildnisse und Sinneseindrücke
Über welche Eigenschaften ein Spiegel auch immer verfügt, zu einem ist er nicht im Stande: Im Gegensatz zur Fotografie kann er das Bild, das er reflektiert, nicht festhalten. Vielleicht ist es gerade diese Vergänglichkeit, von der seine Faszination ausgeht. Schließlich ist das Thema Spiegelung und Reflexion in Kunst, Architektur und Design nicht neu und in vielen Werken zu finden, angefangen bei den Selbstportraits der großen Meister wie in Diego Velázquez’ Las Meninas.
Gestalterische Ansätze in Design und Architektur gibt es viele: Die einen geben dem Spiegel schlicht einen Rahmen, die anderen spielen mit dem Material oder mit unserem Sinneseindruck. Nicht nur um den Narzissten in uns zu wecken, sondern, wie im Fall von Olafur Eliasson, um für Überraschungsmomente zu sorgen. Was bei Your Glacial Expectations auf dem ersten Blick natürlich, gar zufällig wirkt, wurde ausführlich bedacht und geplant: Das scheinbar sich selbst überlassene Grundstück ist gar nicht so wild wie es wirkt; Olafur Eliasson und Günther Vogt haben die Pflanzen und Bäume so ausgewählt und um die fünf Objekte platziert, dass sie bestimmte Spiegeleffekte erzeugen, die wiederum mit unserer Selbstwahrnehmung spielen.
„Die elliptischen Spiegel, die sich innerhalb der Landschaft befinden, schaffen ein Gefühl der Desorientierung", erklärt Olafur Eliasson das Projekt. „Der Himmel öffnet sich unter uns; die Bäume, Tiere, unsere Körper und Bewegungen sind in den Spiegeln gerahmt – unsere Umgebung ist eingekreist."
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