Stories

Das rollende Zuhause

Schluss mit sterilen Kunststoffoberflächen und chaotischen Knopfleisten: Das Auto wird wohnlich!

von Norman Kietzmann, 27.11.2014

Haben Karbon-Karosserien, Elektroantriebe und Carsharing-Modelle reichlich frischen Wind in die Automobilbranche gepustet, herrscht im Interieur noch immer weitgehend Steinzeit. Doch nun kündigt sich auch hier ein Wandel an: Massivholz-Bauteile, Seidenteppiche und eigens komponierte Raumdüfte verwandeln das Fahrzeug in eine rollende Lounge.

Bei der Gestaltung von Autos zählte lange nur eines: die äußere Gestalt. Monate um Monate feilen die Designer an den Kurven der Karosserie, damit sie selbst im Stehen Kraft und Dynamik verströmt. Für den Innenraum blieb dann meistens nicht viel Zeit. Sterile Kunststoffoberflächen, chaotische Knopfleisten und räumliche Enge sind sichere Indikatoren, dass sich das Interieur mit einer Nebenrolle begnügen muss. Bislang zumindest. Wenn es nach den derzeitigen Konzeptstudien der großen Automarken geht, steht die Fahrzeugkabine vor einer grundlegenden Neubewertung. Die Autos der Zukunft müssen nicht nur dynamisch wirken und mit elektrischen Antrieben ein grünes Gewissen beweisen. Sie müssen ebenso auf menschlich-interaktiver Ebene punkten. Wohlbefinden, Sinnlichkeit und Ruhe gelten als wichtige Eigenschaften, die die technisch-kühle Autowelt um eine sensorische Spielebene erweitern werden. 

Authentische Materialien
Welche Veränderungen die Fahrgastzelle erfahren kann, zeigt beispielsweise Volvo mit der Konzeptstudie Estate. Fein gewebte Wollteppiche des schwedischen Teppichherstellers Kasthall sorgen für wohnliche Atmosphäre. Der Schalthebel ist kein lederner Fetischknüppel, sondern ein prismatisches Schmuckstück der Kristallmanufaktur Orrefors – und zwar in schimmerndem Orange. An den Kragen geht es auch sterilen Kunststoffoberflächen. Die Gestalter haben die Instrumententafel mit dickem, naturgegerbten Sattelleder von Tärnsjö eingefasst und viel Holz eingesetzt.

Mid-Century auf Rädern
Anders als in früheren Jahren wird auf hochglanzlackierte Wurzelholz-Furniere verzichtet. Der Trend geht zu Paneelen aus Massivholz, die mit ihrer gewachsten und natürlich gealterten Oberfläche wie ein Sideboard in den heimischen vier Wänden aussehen. Sorgen orangefarbene Sicherheitsgurte für einen sportiven Auftritt, werden die Rückseiten von Fahrer- und Beifahrersitz mit haptischen Stoffen in bester 50er-Jahre-Manier bezogen. Wer am Puls der Zeit sein will, kann eben selbst im Automobil auf Mid-Century-Reminiszenzen nicht verzichten. Wie eine Erinnerung an die Gegenwart wirkt dagegen das komplett verglaste Kabinendach, das Baumkronen wie Straßenschluchten gleichermaßen in Szene setzt.

Leuchtendes Holz
„Ich glaube, dass das Automobil das neue Zuhause ist", sagt Karim Habib, Designchef von BMW. Das Auto muss nicht nur nach außen renommieren, sondern ebenso nach innen Wohlbefinden und Wärme verbreiten. Auch beim Luxury Future Concept der Münchner Automarke dominieren massive, matte Hölzer anstelle hochglänzender Furniere oder gar nüchterner Kunststoffbauteile. Damit die Dynamik bei aller Wohnlichkeit nicht auf der Strecke bleibt, werden filigrane Lichtlamellen in das Holz eingefräst. Mit ihren schlängelnden Linien spenden sie nicht nur ein warmes, atmosphärisches Licht, sondern sprechen auch formal die Formensprache des Interieurs. Hochwertige Seidenteppiche und ein aus Holz und Leder gefertigtes Lenkrad runden den Exkurs in die Wohnwelt ab. 

Ruhe am virtuellen Zeichenbrett
Am Luxury Future Concept fällt noch ein weiterer Aspekt auf: Das Cockpit wirkt erstaunlich aufgeräumt. Am virtuellen Zeichenbrett der Autodesigner ist Ruhe eingekehrt. Sämtliche Knöpfe und Schalthebel sind verschwunden und wurden in digitale Displays integriert. Selbst die Konzerntocher Mini denkt in diese Richtung. In Kooperation mit der Mailänder Karosseriemanufaktur Superleggera entstand das Mini Superleggera Concept – ein eleganter Roadster, der passender Weise auf dem traditionsreichen Oldtimertreffen Concorso d'Eleganza am Comer See vorgestellt wurde. Während die Augen bei den bisherigen Serienmodellen vor lauter Kreisformen gar nicht wissen, wohin sie schauen sollen, macht das Armaturenbrett der Studie seinem Namen tatsächlich alle Ehre. „Es geht darum, den Fahrer wieder stärker in den Mittelpunkt zu setzen und ihn weniger abzulenken“, erklärt Adrian van Hooydonk, Chefdesigner der BMW-Gruppe. 

Der Nase entlang
Wohlfühlen geht beim Auto künftig auch durch die Nase. Wurde der Fahrzeuggeruch bislang vor allem durch das Leder der Sitze, Zigarettenqualm oder die Ausdünstungen von Duftbäumen bestimmt, haben die Hersteller die Möglichkeiten des Geruchsdesigns entdeckt. Bereits jetzt wird der Innenraum der 2014er S-Klasse von Mercedes mit einem eigens entwickelten Beduftungssystem ausgestattet. Unter der Regie des Parfümeurs Marc vom Ende entstanden vier verschiedene Raumdüfte, die sich nur leicht in ihren Nuancen unterscheiden. Als Standard wird der Duft Freeside Mood ausgeliefert, den der Parfümeur als „unauffälligen, aber präsenten Zitrusduft, sehr rund, ohne Ecken und Kanten“ beschreibt. 
Plasma gegen Viren
Neben der S-Klasse W222 wird das Duftpaket Air Balance auch für die neue C-Klasse W205 angeboten. Als Zusatzfunktion gibt es eine Luftreinigung durch Ionisierung. Bevor die Luft aus der Klimaanlage in die Kabine gelangt, sollen Viren, Bakterien und Sporen eliminiert werden. Damit das Verfahren gelingt, wird mit einer Spannung von mehreren tausend Volt ein künstliches Plasma erzeugt. Die negativ geladenen Sauerstoffionen sorgen zudem für ein angenehmes Raumklima im Fahrzeuginneren. Das mag nach Hightech klingen, jedoch: Auch in der Natur liegt die Ionen-Konzentration am Meer oder in Hochgebirgen bis zu 50 mal höher als in den Städten. Die elektronische Luftreinigung wirkt so erfrischend wie ein Spaziergang am Strand.

Aussicht
Was die neuen Design-Konzepte zeigen, ist eine Korrektur der Maßstäbe. Schluss mit der Prahlerei nach außen. Es ist an der Zeit, etwas für sich selbst zu tun. Das Auto muss im Inneren brillieren und ein räumliches Erlebnis für die Insassen schaffen. Was hat der Fahrer davon, wenn ein Fahrzeug von außen viel hermacht, doch innen nach Baumarkt aussieht? Dass sich die Zukunftsstudien mitunter auf den Retrofaktor verlassen, überrascht kaum. Schließlich gehörten Wärme und Komfort in früheren Dekaden zur Grundausstattung. Auch wenn die wenigsten Konzeptfahrzeuge tatsächlich auf den Markt gelangen, zeigen sie die Richtung, in die die Branche denkt. Und die ist eindeutig: Die Domestizierung des Automobils ist längst in vollem Gange.

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