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Dem Chaos enthoben

von Norman Kietzmann, 04.01.2010


Es sei kein Buch über Farben, verrät die Einleitung zu „Weiss“. Und dennoch dreht sich alles im neuen Band des japanischen Designers und Autors Kenya Hara, der nun in deutscher Sprache erschienen ist, um die Interpretation und Wahrnehmung der zurückhaltenden Nicht-Farbe. Knapp 80 Jahre nach Tanizaki Jun‘ichiros „Lob des Schattens“ ist ihm damit eine nicht minder prägnante wie anschauliche Einführung in die japanische Ästhetik gelungen, die zugleich den Einfluss heutiger Technologien verarbeitet. Sein Fazit: Kreativität ist das Ergebnis einer nuancierten Empfindung von Leere, die eine Verfeinerung der Sinne verlangt.



„Weiss als solches gibt es nicht. Was es gibt, ist eine Empfänglichkeit dafür, Weiss zu empfinden. Deshalb kann man auch nicht nach Weiss suchen. Stattdessen müssen wir danach suchen, wie wir Weiss empfinden“, gibt Hara seinen Lesern gleich zu Beginn auf den Weg und löst damit sofort ein kalkuliertes Stück Verwirrung aus. Denn was verbirgt sich hinter dem, was gemeinhin als „Weiß“ bezeichnet wird: Eine Farbe, eine Nicht-Farbe, ein Zustand, eine Täuschung?

Die Flüchtigkeit von Weiß

Wenn es nach der Physik ginge, zeigt sich Weiß als die Summe aller energetisch gleichwertigen Farben. Es trägt alle Farben in sich und bleibt dennoch eine Nicht-Farbe, deren Reinheit bereits im Moment ihrer Entstehung bedroht ist. Denn Weiß ist vergänglich. Es läuft ununterbrochen Gefahr, verschmutzt zu werden und sich in der Mischung mit anderen Farben aufzulösen. Für Hara ist Weiß damit die Farbe des Kizen, eines Zustands des Noch-nicht-Seins und einer Summe latenter Möglichkeiten, die dem Weiß zugleich eine zeitliche Dimension verleihen. Entsteht in der Physik ein Weiß aus der Summe aller Farben, vermischen sie sich auf der Palette eines Malers unwillkürlich zu einem unbestimmten Grau. Ein Farbton, den der 58-jährige Hara mit bedeutungslosem Chaos gleichsetzt. Weiß dagegen sei „Leben und pure Information, die sich aus dem Chaos erhebt.“

Auslassung und Leere

Denn Weiß kann mit Inhalt gefüllt werden. Hara sieht nicht zuletzt in der Leere und Reinheit des weißen Papiers einen entscheidenden Impulsgeber für die kulturelle Entwicklung. Was wäre schließlich die schwarze Schrift ohne das sprichwörtliche leere, weiße Blatt, das es zu füllen gilt? Hätte sie sich auf grauen oder farbigen Untergründen wohl ähnlich dynamisch entwickelt?

Die Wirkung von Weiß geht jedoch weit über den Drang zum Füllen der Leere hinaus. Auch die Leere selbst hat sich in der japanischen Kunst zu einem wirkungsvollen Stilmittel entwickelt, das Hara anhand des Kiefernwald-Motivs des Künstlers Hasegawa Tohakus (1539-1610) erläutert. Zwischen den in schwarzer Tusche gezeichneten Kiefern finden sich bewusst eingefügte Aussparungen. Diese werden jedoch nicht als Leere empfunden, sondern vom Betrachter im Geist mit weiteren Bäumen vervollständigt, die im Hintergrund zu stehen scheinen. „Ein unbemalter, weißer Leerraum in einem Bild sollte also nicht als ein Raum betrachtet werden, der keine Information enthält. Im Gegenteil, gerade der Gedanke, diesem Raum einen Bedeutungsgehalt beizumessen, macht einen massgeblichen Teil der japanischen Ästhetik aus.“ Im Zentrum des Bildes, so Haras Schlussfolgerung, stehen weniger die tatsächlich abgebildeten Bäume als vielmehr der leere Raum, der sich zwischen ihnen ausbreitet.

Der Einfluss der Tee-Zeremonie

Die Aussparung wird auf diese Weise zugleich zu einem Mittel der Kommunikation, das eine Verbindung zwischen Kunstwerk und Rezipienten herstellt. Denn erst in dessen gedanklicher Vorstellung wird das Bildmotiv vervollständigt. Ein Prinzip, das ebenso bei der Gestaltung von Räumen zum Einsatz kommt wie den leeren Innenräumen der Shinto-Tempel oder den Räumen der Tee-Zeremonie.

Vor allem die Tee-Zeremonie nimmt für die Empfindung von Schlichtheit und Leere eine entscheidende Rolle ein. Für Japan, das während des Onin-Krieges (1467-1477) einen schweren kulturellen Verfall erlebte, lag in deren Ausprägung zugleich der Beginn einer eigenständigen, ästhetischen Wahrnehmung, die bis heute anhält. Wurden noch bis ins späte 15. Jahrhundert oft prachtvolle und reich dekorierte Alltagsgegenstände aus China importiert, lösten die betont schlichten Gebrauchsgüter sowie die klare Raumgestaltung, die seit der Regierung von Shogun Ashikaga Yoshimasa (1436-1490) im Rahmen der Teezeremonie zum Einsatz kamen, ein verfeinertes, ästhetisches Empfinden aus. Über die Vereinfachung, so Kenya Hara, wurde nach einer eigenständigen, japanischen Denkweise gesucht, die „mittels einer schlichten Gestaltung die komplizierten Gefühle des Menschen wiedergeben sollte“.

Mittel der Kommunikation

Für Hara, der unter anderem das visuelle Erscheinungsbild von Muji entworfen hat, liegt hierin zugleich die Verbindung zu Weiß: „Die Leere ist der Rohstoff, aus dem Kommunikation und Gedanken entstehen, denn sobald wir Leere erkennen, versucht unser Geist, sie zu vervollständigen, sie mit fehlendem Inhalt aufzufüllen.“ Dennoch wendet er sich zugleich kritisch von der überstrapazierten Formel „less is more“ ab, die nur allzu oft als monoton angewandte Doktrin missverstanden werde: „Leere bedeutet nicht nur reduziert gestaltete Einfachheit oder rational begründete Verfeinerung, sondern sie umfasst einen Raum, der es den Informationen ermöglicht, sich frei zu entfalten.“

Die Reduktion wird bei Hara zum Auslöser gezielter Kommunikation, deren Zeichen immer wieder aufs Neue definiert werden müssen. Denn nur mit unverbrauchtem Blick lässt sich Gestaltung auf überzeugende Weise realisieren. „Ich glaube, dass das Wesen des gestalterischen Ausdrucks darin besteht, dass man etwas vorsätzlich entfremdet und somit Verstehen umsetzt. Entfremdung führt zu Weiss. Dass Weiss sich der Anziehungskraft des Chaos entzieht, macht es zu einer einzigartigen, herausragenden Vorstellung.“  Was Kenya Hara mit diesem Buch gelingt, ist weit mehr als der Blick auf die japanische Ästhetik allein. Er übersetzt seine Erkenntnisse in eine verständliche wie fordernde Handlungsanweisung, wie Gestaltung in Zukunft besser gelingen kann. Sein Plädoyer für eine verfeinerte Empfindung, ohne die der Zugang zu Weiß nicht möglich wäre, reicht sogar noch weiter. Es fordert ein gesteigertes Bewusstsein gegenüber unserer alltäglichen Umgebung insgesamt.


Kenya Hara, Weiss
Lars Müller Publishers
ISBN: 978-3037781821
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Links

Kenya Hara

Nippon Design Center

www.ndc.co.jp

Lars Müller Publishers

www.lars-mueller-publishers.com

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