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Der Campus errötet

Das Vitra Schaudepot in Weil am Rhein beweist: Der Stuhl macht Politik. Von vierbeinigen Freunden, Backstein und der Frage, wo Architektur anfängt.

von Antje Stahl, 07.06.2016

Das neue Vitra Schaudepot in Weil am Rhein von Herzog & de Meuron widmet sich ganz dem Stuhl. Ist das viel oder wenig? Ein Besuch vor Ort beweist: Der Stuhl macht Politik. Von vierbeinigen Freunden, Backstein und der Frage, wo Architektur eigentlich anfängt.

„A chair is just a fucking chair“, sagt Jacques Herzog auf dem Podium. Neben ihm sitzen Pierre de Meuron, Mateo Kries und Rolf Fehlbaum und schmunzeln. Fast erleichtert reagiert das Publikum, das in Zaha Hadids Feuerwehrhaus gezogen ist, um der Eröffnung des neuen Schaudepots gleich nebenan auf der Südseite des Vitra Campus in Weil am Rhein beizuwohnen: A chair is just a fucking chair.

Trotzdem wurde ihm, dem Stuhl, ein eigenes Haus geschenkt – ein Ausstellungshaus, ein ziemlich simples Haus. Es besteht aus einem Satteldach, vier Seiten und einer Tür. Die rote Backsteinfassade wurde manuell angefertigt, wie Direktor Mateo Kries bei einem Rundgang erzählt. Stein um Stein wurde in der Mitte durchgeschlagen und wie Pailletten auf den Zement gesetzt, so dass der Eindruck entsteht, sie würden nebeneinander und übereinander Wellen schlagen, ohne sich jemals in die Quere zu kommen. Auch das bestufte Podium, auf dem die neue Halle wie ein bescheidener Tempel thront, besteht aus roten Steinen.

Wenn man der Online-Zitate- und Sprüche-Sammlung Glauben schenkt, beginnt Architektur schließlich, „wenn zwei Backsteine sorgfältig zusammengesetzt werden“. 1924 stellte Mies van der Rohe den Klinker neben dem Bürohaus aus Beton (und dem Hochhaus aus Glas) als geeignetes Baumaterial in einer Ausstellung vor. In Weil am Rhein gesellt er sich fast ein Jahrhundert später passend zum betonverwinkelten Feuerwehrhaus von Hadid. Ob dabei ein errötetes Konkurrenzverhalten zwischen den Bauten messbar wird, muss der Besucher selbst entscheiden. Eine Beziehung zum sogenannten Schaulager, das in Münchenstein bei Basel steht und ebenfalls im Büro Herzog & de Meuron konzipiert wurde, ist jedenfalls nicht wegzudenken.

Wichtig für den Besucher sind hier aber andere Dinge. Erstens kann er ab sofort durch den Südeingang auf den Vitra Campus gelangen und dort das Feuerwehrhaus, das erste realisierte Gebäude der kürzlich verstorbenen Zaha Hadid überhaupt, bewundern. Und zweitens durch das einzige Loch schlüpfen, das dieses fensterlose Schaudepot besitzt.

In der Halle wartet ein Shop, der wie jeder andere Museumsshop Kataloge und Kleinkunst (hier vor allem Stuhlminiaturen) im Angebot hat. Was zählt und mit kaum einem anderen Museum vergleichbar ist, ist natürlich der hier gezeigte Ausschnitt aus der Vitra-Stuhl-Sammlung. Sie wurde von Rolf Fehlbaum in den 1980er Jahren gegründet. „Warum sollte ich einen Stuhl anschauen“, fragt er zu Beginn der Podiumsdiskussion und greift den Blick des angenommen sehr verbreiteten und überaus ignoranten Stuhlbenutzers vorweg. Erinnert werden etwas nostalgisch die großen Erzählungen der Architekturgeschichte, in der das Innen nicht vom Außen getrennt, Fassade und Einrichtung noch aus einer Hand erdacht und entworfen wurden. Passende Beispiele stehen auf einem Regaletagensystem, das zur linken und rechten Hand in der Halle aufgebaut wurde.

Sortiert wurden die vier- (oder auch zwei- oder einbeinigen) Gefährten nach ihrer chronologischen Entstehungsgeschichte von 1800 bis heute. Zu den Klassikern, die man heute und in regelmäßigen Abständen in Wohnungsfotokatalogen wiederfindet, gehören natürlich Eames-Stühle und sogenannte Freischwinger. Dagegen schreien einen die verrückten Farb- und Formverzerrungen aus der Postmoderne an, ein Sofa von Alessandro Mendini aus dem Jahr 1978 etwa: Schöne Le-Corbusier-Farben rot, blau, gelb und grün, werden hier zur Verschönerung von Rückenlehnelementen missbraucht, die aussehen wie Biedermeier-Blitze. Das eigentliche Farbgewitter entsteht aber auf der Sitzfläche, die hellbraune-lila Herzstromkurven ausströmt. „Die werden aber auch wieder zurückkehren“, versichert Mateo Kries während des besagten Rundgangs. Auf die Langeweile über die Klassiker folgt in diesem neuen Schaudepot folglich die Angst vor den Achtzigern. Schließlich aber auch das Interesse für Spezialanfertigungen.

404A ist ein Sitz für das Kampfflugzeug F-86 Saber. Er wurde von Warren McArthur zwischen 1946 und 1948 entworfen, nach dem Zweiten Weltkrieg also. Leider gibt die neue Webseite des Vitra Design Museums unter dem Stichwort Sammlung Online, wie bei den anderen Sammlungsgegenständen, keine weiteren Informationen zu diesem Prototypen. Die Online-Google-Recherche verweist auf das Deutsche Museum Flugwerft Schleißheim. Nach dem soll F-86 das erste „Strahlflugzeug mit Pfeilflügeln“ Amerikas gewesen sein, das im Koreakrieg und gegen MiG-15 eingesetzt wurde – ein Kampfflugzeug, das die UdSSR und die Volksrepublik China besaßen und der amerikanischen Luftwaffe überlegen war. Im Schaudepot wird damit plötzlich Geschichte ausgestellt, die sich bis heute an der Grenze zwischen Nord- und Südkorea fortschreibt. Sie ließe sich in Weil am Rhein wahrscheinlich unendlich weitererzählen.

Von der Halle aus blickt man durch ein Loch in der Wand in den Keller, das eigentliche Depot, das dem Haus seinen Namen gegeben hat. Durch Glasscheiben breiten sich weitere Regaletagensysteme aus: Über 7.000 Möbel, über 1.000 Leuchten warten hier und irgendwo dazwischen die Nachlässe und Archive von sehr, sehr vielen Designern. Zu den jüngeren gehört wahrscheinlich Jerszy Seymour, Jahrgang 1968. Er lebt in Berlin und fliegt seit Beginn seiner Laufbahn zwischen Design und Kunst, zwischen Wohn- und Ausstellungshäusern hin und her als handele es sich um eine aus Liebe geschlossene Ehe. Die grellen Farben (Pink) des im Schaudepot ausgestellten Stuhls übertrumpfen den postmodernen Schrei – das Material allerdings, das Seymour für das Mobiliar verwendet, ist ein Kunststoff, den er aus Kartoffeln gewinnt. Living systems heißt das Unikat aus dem Jahr 2007. A chair is eben not just a fucking chair.

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Links

Projektarchitekten

Herzog & de Meuron

Projekt

Vitra Schaudepot

www.vitra.com

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