Diamantenfieber auf dem Reißbrett
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Er war Ikone und Querdenker der Moderne: der Mailänder Architekt, Designer, Künstler und Publizist Gio Ponti. Dass vor genau 50 Jahren mit dem Pirelli-Hochhaus in Mailand sein wichtigstes Gebäude fertiggestellt wurde, nehmen derzeit gleich zwei Ausstellungen in der lombardischen Metropole zum Anlass für eine gemeinsame Retrospektive. Vollzieht die Mailänder Triennale mit der Ausstellung „Expressioni di Ponti“ einen Querschnitt durch sein gesamtes, kreatives Schaffen, legt die Schau „Gio Ponti. Il fascino della ceramica“ im Sockelgeschoss des Pirelli-Turms den Schwerpunkt auf seine Arbeiten in Porzellan. Eine ungewöhnliche Kombination? Nicht unbedingt: Schließlich begann Gio Ponti seine Karriere nicht am Reißbrett, sondern in der Porzellanmanufaktur Richard Ginori.
„Gio Ponti ist einer der wenigen Architekten, der alles als Architektur betrachtet und Architektur in all seinen Arbeiten praktiziert hat“, schrieb Charles Eames anlässlich der Eröffnung der Ausstellung „The Expression of Gio Ponti“ im Minneapolis Walker Art Center 1967. Der Titel dieser Ausstellung entstammte einer Schau, die Gio Ponti 1954 in der Mailänder Triennale inszenierte und die heute, 57 Jahre später, erneut vom italienischen Kurator Germano Gelant aufgegriffen wird. Die Frage des Warum erklärt sich weniger aus konzeptioneller Einfallslosigkeit als einem entscheidenden Fakt: Schließlich ist das Werk Gio Pontis in eine derart ungewöhnliche Fülle an Stilen und Ausdrücken unterfächert, dass es sich in keine der gängigen Kategorien wie Moderne, Spätmoderne oder Art Déco sortieren ließe. Ponti, so stellt Germano Celant gleich am Eingang der Ausstellung als These in den Raum, sei der eklektischste aller Modernisten gewesen, der die unterschiedlichsten Stile, Formen und Maßstäbe geschickt miteinander verbunden hätte.
Neues Gesicht für Mailand
„Im seinem Studio waren vierzig junge Leute aus der ganzen Welt angestellt. Mailand war ja zu dieser Zeit das Mekka der Designwelt. Nach den ersten zwei Tagen in seinem Büro hatte ich mehr Freunde, als ich das zuvor in meinem ganzen Leben gehabt habe“, erinnert sich Richard Sapper, der 1957 als junger Gestalter im Büro von Gio Ponti anfing. So international wie die Besetzung seines Büros zeigte sich auch die Herkunft seiner Aufträge. Ponti zählte hierbei zu den wenigen Architekten der fünfziger Jahre, der Projekte nicht nur in seinem Heimatland Italien, sondern ebenso in Hongkong, Denver, Bagdad, Caracas, São Paolo oder New York realisierte. Doch so selbstverständlich es ihn in die Welt hinausführte: Verändert hat er vor allem das Gesicht von Mailand.
Auf einer großen Karte sind sie im hinteren Raum der Ausstellung eingetragen, die insgesamt 44 Projekte, die Gio Ponti in den Jahren 1925 bis 1971 in seiner Geburtsstadt realisierte, darunter prominente Bauten wie der Pirelli-Turm (1956-1961), der Sendemast Torre Littoria (1933) – die filigrane Konstruktion befindet sich unmittelbar neben dem Gebäude der Triennale im Parco Sempione –, das Krankenhaus San Carlo (1961-1965) oder die Kirche San Francesco al Fopponino (1961-1964). Dass die Architektur in dieser Schau nicht überwiegt, sondern vielmehr erst am Ende des Rundgangs zur Geltung kommt, hat einen konkreten Grund. Schließlich war Gio Ponti weit mehr als nur der Architekt und Möbelgestalter, als der er heute oft verstanden wird. Begonnen hatte er seine berufliche Laufbahn nach seinem Architekturstudium am Mailänder Politecnico 1921 nicht am Reißbrett, sondern an einem für Architekten zunächst recht ungewöhnlichen Ort: Im Alter von 32 Jahren wurde er 1923 zum künstlerischen Leiter der Porzellanmanufaktur Richard Ginori.
Vom Porzellan zur Stadt
Für das Traditionsunternehmen, das 1735 gegründet wurde und damit zu den ältesten Manufakturen Europas gehört, war Ponti bis zum Jahr 1930 tätig, wenngleich ihm die Faszination für Porzellan und Keramik auch weiterhin erhalten blieb. In diesen Zeit entwarf er nicht nur sämtliche Produkte und Dekore neu, sondern überwachte ebenso die Gestaltung der Kataloge, Produktfotografien und Anzeigen bis hin zu den Etiketten und Preisschildern, mit denen das Unternehmen in der Öffentlichkeit sichtbar wurde. Konnte Ponti auf diese Weise die Rolle eines Art Directors definieren, noch bevor dieser Berufsstand überhaupt als solcher wahrgenommen wurde, zahlte sich sein Engagement schnell aus. Noch im ersten Jahr bei Richard Ginori wurde seinen Arbeiten auf der Biennale delle Arti decorativi 1923 in Monza ein gesamter Raum gewidmet. Dass Ponti fortan in den künstlerischen Beitrag der Ausstellung aufgenommen wurde, öffnete ihm den Weg zu einem weitaus wichtigeren Posten, den er in den folgenden Jahren bekleiden sollte: Er wurde zum ersten Direktor der Mailänder Triennale, der nach der Eröffnungsausstellung 1930 auch die folgenden Schauen in den Jahren 1933, 1936, 1940 sowie 1951 leitete.
Vor allem letztere sollte auf die Neuausrichtung der Gestaltung nach Ende des Zweiten Weltkriegs großen Einfluss nehmen. Auch Ponti, dessen frühere architektonischen Arbeiten noch vom Klassizismus beeinflusst waren, vollzog nun einen klaren Wandel in Richtung Moderne. In rigide Raster oder den Zwang zum rechten Winkel ließ er sich dennoch nicht einspannen und führte selbst den Grundriss seines berühmten Pirelli-Turms als einen abstrahierten Diamanten aus. Dessen gestreckte, secheckige Form, mit der sich Ponti bereits bei seinen Dekoren für Richard Ginori auseinanderzusetzen begann, übertrug der durch die Fenster- und Fassadengestaltung der Kirche San Francesco al Fopponino (1961-1964) sowie der Konkathedrale Gran Madre di Dio in Tarent (1964-1971) bis weit in den urbanen Raum. Und mit dem Diamanten-Sofa für Cassina (1953) sowie der Studie eines sechseckigen Automobils für den Mailänder Carozzeria Touring Club (1953) ließ er die Form des Hexagons auch im kleinerem Maßstab zur Geltung kommen.
Eklektische Moderne
Dass Dekore für Ponti kein Feinbild, sondern vielmehr Werkzeug waren, bringt die Ausstellung in der Triennale mit einem 60 Quadratmeter großen Mosaik auf den Punkt, das Gio Ponti 1976 für die Redaktion der Salzburger Nachrichten entwarf. Zusammengesetzt aus 1778 individuell bemalten Keramikplatten entsteht ein wilder Mix aus Dreiecken und Linien, die sich in zwölf unterschiedlichen Farben gegenseitig überschneiden und zu einem dynamischen Ganzen verdichten.
Eine enge Zusammenarbeit verband Gio Ponti ebenso mit dem Mailänder Grafiker Piero Fornasetti, dessen Haus er regelmäßig zum Mittagessen einen Besuch abstattete. Schließlich, so erinnert sich Fornasettis Sohn Barnaba, lag nicht nur das Mailänder Politecnico wenige Schritte entfernt, wo Ponti in den vierziger und fünfziger Jahren unterrichtete. Auch sei das Essen der Fornasettis besser gewesen als in Pontis eigenem Zuhause, das er 1957 als großzügigen Open Space in der Via Dezzi in Mailand entwarf. Die Arbeitsteilung zwischen beiden war klar ausgemacht: Konzipierte Ponti die Formen der Schreibtische, Schränke, Tische oder Betten, übernahm Fornasetti die Dekore, die von farbigen Blumenmotiven bis hin zu imitierten Zeitungscovern reichten, wie sie beispielsweise auf dem Radiomöbel (Mobile con Radio) aus dem Jahr 1950 zum Einsatz kamen.
Visuelle Vielfalt
Dass diese Entwürfe – im Gegensatz zu Pontis anderen Arbeiten wie dem Stuhl-Klassiker Superleggera für Cassina (1957) – über limitierte Editionen nicht hinauskamen, lag nicht zuletzt am Widerstand der Hersteller, die in den Jahren des Wiederaufbaus lieber auf neutrale, einfarbige Oberflächen setzten anstatt auf Fornasettis fantasievolle Dekore. Dass Fornasetti dennoch einige der gemeinsam entwickelten Möbel in Eigenproduktion herstellen ließ, führte ab Mitte der fünfziger Jahre zum Bruch der Freundschaft zwischen beiden Gestaltern. Den Sinn für kreative Vielfalt lebte Gio Ponti unterdessen mit den von ihm gegründeten Zeitschriften Domus (seit 1928) und Stile (1941-1947) aus, von denen er erstere bis zu seinem Tod im September 1979 als Herausgeber und später auch als Chefredakteur leitete.
Und noch etwas wird inmitten der insgesamt 250 Zeichnungen, Skizzen, Gemälde, Skulpturen, Keramiken, Möbel und Architekturmodelle in der Mailänder Triennale deutlich: „Nicht Schwere, sondern Leichtigkeit, nicht Pracht, sondern Verfeinerung, nicht Dunkelheit, sondern Licht und vor allem keine nationalistischen Themen, sondern die des täglichen Lebens“, beschreibt Arata Isozaki in einem Begleittext zur Ausstellung das Geheimnis von Gio Pontis Entwürfen. Und in der Tat: Erhält der Pirelli-Turm aufgrund seines sechseckigen Grundrisses nicht eine ebenso prägnante Leichtigkeit wie der Stuhl Superleggera, der gerade einmal 1.700 Gramm auf die Waage bringt? Diamanten können mitunter ganz schön leicht sein. Selbst dann, wenn sie 128 Meter in die Höhe reichen.
Weitere Informationen
„Espressioni di Gio Ponti“ / noch bis zum 24.07.2011 in der Mailänder Triennale / Viale Alemagna, 6
„Gio Ponti. Il fascino della ceramica“ / noch bis zum 24.07.2011 im Pirelli-Turm / Eingang über Via Fabio Filzi, 22
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