Die Abkehr vom Konzeptdesign – Der Salone del Mobile 2010
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Die 49. Mailänder Möbelmesse ist an diesem Montag nach sieben dicht gefüllten Tagen zu Ende gegangen. Das Fazit der weltgrößten Möbelschau: Anstatt holländischer Konzeptentwürfe standen reduzierte, klare Formen im Mittelpunkt und erklärten Langlebigkeit zum entscheidenden Designkriterium.
Auch diesmal herrschte in Mailand dichtes Gedränge. Trotz isländischer Aschewolken, die nicht wenige An- und Abreisen verzögerten, ist die Zahl der Besucher dieser Möbelmesse erneut gestiegen. Mit rund 330.000 Besuchern allein auf dem Messegelände in Rho wurde ein Anstieg um sieben Prozent verzeichnet, die Zahlen der über 400 Ausstellungen und Events im gesamten Stadtgebiet noch gar nicht mit eingerechnet.
Vor allem in der Zona Tortona erinnerte das Bild angesichts der unüberschaubaren Menschenmengen, unzähliger Würstchenbuden, Promotionstände und lauter DJ-Beschallung mitunter mehr an einen Rummel als an eine Möbelausstellung. Die Dichte an Ausstellungen, Cocktails oder Parties war weiterhin enorm, und auch die Bar Basso – wie immer der allabendliche Treffpunkt nach Mitternacht – erreichte neue Besucherrekorde. Doch so marktschreierisch es auf den Straßen mitunter zuging: Es ist leiser geworden um die neuen Produkte, die ebenso von ihrer Präsentation her einen spürbar bescheidenerer Ton gefunden haben.
Mittel der Reduktion
Zwar sind minimalistische Entwürfe bei weitem keine neue Erfindung. Doch dass sie sich derart zum Massenphänomen gewandelt haben, ist auch für Mailand keine selbstverständliche Entwicklung. Anstatt wie sonst nach möglichst individuellen, einprägsamen Formen zu suchen, herrschte auffallende Kontinuität unter den gezeigten Entwürfen. Kaum ein Stand, der nicht mit einem schlichten hölzernen Stuhl mit skandinavischem Einschlag aufwartete oder gar mit kräftigen Farben aus der Reihe tanzte. Auf den ersten Blick nicht einordnen zu können, aus welcher Zeit die vorgestellten Produkte überhaupt stammen, zählte zu den wenigen Eigenschaften, die die Messeneuheiten von sich preisgaben. Sie wollen zeitlos sein und schon jetzt die Aussicht auf einen Klassiker von morgen vermitteln.
Hölzerne Patina
Vor allem Holz stand hoch im Kurs und wurde auf sehr unterschiedliche Weise interpretiert. So zeigte der japanische Designer Shin Azumi seinen organisch geschwungener Hocker AP für LaPalma, der lediglich aus einer einzelnen Scheibe Holz gebogen wurde und mit seiner filigranen Silhouette überzeugt. Piero Lissoni entwarf mit „Neve" einen eleganten Holzstuhl für Porro, während Martino Gamper bei seinem „Sessel“ für Established & Sons dem Konstruktionsprinzip des klassischen Wiener Kaffeehausstuhles eine zeitgemäße Wendung gab. Wird es noch einige Jahre dauern, bis sie eine natürliche Patina annehmen, hat Matteo Thun diese bei seinem Tisch „Briccole di Venezia“ für Riva 1920 bereits vorweggenommen. Gefertigt aus recycelten Holzpfählen, denen zuvor im Canal Grande in Venedig über Jahre vom Wasser und kleinen Muscheln zugesetzt wurde, verfügt er über eine individuelle und unregelmäßige Kontur und offensichtliche Alterungspuren.
Wohnliche Schwergewichte
Während langlebige Materialien den Ton angaben, vollzog auch der Umgang mit Kunststoff eine Wendung. So wirkt der schwebend leichte Invisible Chair von Tokujin Yoshioka, als wäre er aus einem massiven Block transparenten Glases geschnitten. Und Patricia Urquiolas ebenfalls für Kartell entwickelter „Comback Chair“ erinnert auf den ersten Blick an skandinavische Holzmöbel. Fast scheint es, als wäre es ihnen unangenehm, dass sie dennoch vollständig aus Kunststoff gefertigt sind und damit automatisch in den Verdacht eines flüchtigen Wegwerfproduktes geraten. Waren neben Holz auch Metall und Leder auf den Ständen der Messe sowie in den Showrooms im Stadtgebiet allgegenwärtig, avancierte derweil ein anderes Material zum Liebling dieser Möbelmesse: Marmor!
Ob Antonio Citterios Beistelltisch „Lithos“ für Maxalto, Jean-Marie Massauds Tischserie „Yale“ für MDF Italia oder der „Bellow Dining Table“ von Toan Nguyen für Walter Knoll – sie alle kamen mit schlanken Tischoberflächen aus Marmor daher. Einen Schritt weiter ging derweil der Marmorhersteller Marsotto und ließ von Gestaltern wie Jasper Morrison, Naoto Fukasawa, Konstantin Grcic oder James Irvine Möbel aus massivem Marmor entwerfen, die wie der markante Beistelltisch Salto von James Irvine eine frische und zeitgemäße Anwendung des altertümlichen Materials propagieren. Auch auf der parallel stattfindenden Küchenmesse Eurocucina setzte sich der Trend weiter fort, wo marmorne Arbeitsplatten auf fast keinem Stand fehlen durften.
Solide Wertanlage
Vermitteln diese Entwürfe schon durch ihre Materialität verlässliche Werte, ergeben sich in Kombination mit Reeditionen noch weitere Synergien. So sind allein sieben Tische sowie ein Hocker der von Agape Casa wieder aufgelegten Entwürfe Angelo Mangiarottis aus Marmor gefertigt und wirken auf diese Weise erstaunlich aktuell. Überzeugen konnten jedoch auch weit weniger exklusive Entwürfe wie das stapelbare und lediglich aus Sperrholz gefertigte Regalsystem Cavalletto, das ebenfalls von Mangiarotti 1955 entworfen wurde.
Zeitlos elegant zeigt sich derweil die Liege „Canapo“ von Franco Albini aus dem Jahr 1945, die nun von Cassina wieder ins Programm genommen wurde. Eine Reedition der unsichtbaren Art stellte unterdessen Vitra mit einer vergrößerten Version des Lounge-Chairs von Charles & Ray Eames vor. Als das Möbel in den 1950er Jahren entstand, waren die Menschen durchschnittlich rund zehn Zentimeter kleiner als heute, weswegen die bisherige Version des Sessels von vielen als zu klein empfunden wird. Der Klassiker wurde nun an heutige Maßstäbe angepasst, ohne die Proportionen des Originalentwurfs auf erkennbare Weise zu verändern.
Design als Do-it-yourself-Projekt
Braucht sich dieser um seine Rolle als Klassiker nicht zu sorgen, legt Artek derweil mit „Sedia 1“ einen Entwurf von Enzo Mari wieder auf, der schon bei seiner Präsentation 1974 für Kontroversen sorgte. Als Teil der Serie „Autoprogettazione“ wird der schlichte, hölzerne Stuhl als ein Set von vorgeschnittenen Brettern geliefert, die vom Kunden selbst zusammengeschraubt werden müssen. Was zunächst klingt wie ein ganz normaler Entwurf von Ikea, war seinerzeit in Mailand eine Provokation. Ließ Mari die Kunden beim Originalentwurf noch eigenhändig Bretter aus einfachem Pinienholz besorgen, zuschneiden und zusammennageln, um auf diese Weise eine Verbindung zu ihren Alltagsgegenständen herzustellen, wird die Reedition als vorgefertigtes Paket geliefert.
Einen ähnlichen Ansatz verfolgt derweil auch der belgische Gartenmöbel-Hersteller Extremis. Entwürfe wie die kreisrunde Sitzbank „Abacus“ können die Kunden erstmals nicht nur als fertiges Produkt, sondern ebenso als reine Lizenz erwerben. Für rund zwanzig Prozent des Originalpreises erhalten sie im Gegenzug die Baupläne, um das Möbel selbst anzufertigen und die eigenen handwerklichen Fähigkeiten unter Beweis zu stellen. Der Vorteil dieses ungewöhnlichen Designvertriebs: Er fördert nicht nur eine stärkere Beziehung zwischen Konsument und Möbel, sondern erlaubt den Einsatz lokaler Materialien und macht einen langwierigen wie kostenintensiven Transport überflüssig.
Weiche Linienführung
Im Polsterbereich wird unterdessen der Fokus von der Form auf einen gesteigterten Sitzkomfort verlagert. So setzt Antonio Citterio mit seinem Sofaprogramm Suita für Vitra auf abgerundete Formen und kombiniert die einzelnen Elemente der Polsterfamilie mit integrierten Tischen und Ablageflächen. Mit ihrem Bend Sofa für B&B Italia übersetzte auch Patricia Urquiola die Formensprache eines kubischen Sofas in jeweils leicht abgerundete Konturen, die zum Wohlfühlen anregen, anstatt mit einer starren, geometrischen Gestalt zu überzeugen versuchen. Wird die Sitzhaltung hierbei bewusst offen gehalten, geht der Brite Thomas Heatherwick mit seinem Spun Chair für Magis noch einen Schritt weiter. Ähnlich einem übergroßen Kreisel können die Benutzer in ihm auf unkonventionelle Weise Platz nehmen, zur Seite rollen und damit spielerisch austesten. Als einer der wenigen Entwürfe dieser Messe verrät die auffällige Form ihren digitalen Entwicklungsprozess und vermeidet den zugleich befremdlichen Eindruck, schon immer da gewesen zu sein.
Ausweg der Avantgarde
Die Sehnsucht nach verlässlichen Werten hatte jedoch nicht nur die neuen Technologien auf dieser Möbelmesse spürbar verdrängt, sondern zugleich eines ihrer prominentesten Kinder ins Wanken gebracht: die niederländische Design-Avantgarde. Galten die Ausstellungen von droog oder dem von Marcel Wanders gegründeten Designlabel Moooi stets als Highlights der Messe, ist es deutlich leiser um sie geworden. Überzeugen konnte von den einstigen Vorreitern diesmal nur einer: Anstatt einer raumfüllenden Installation präsentierte Maarten Baas seinen Film „real time clock“ – bei dem eine vermeintlich digitale Uhr in Echtzeit von Menschenhand weiter bewegt wird – als Application für das iphone.
Müssen reale Produkte nun mit langlebigen Qualitäten überzeugen, scheint das Konzept im Design wohl mehr und mehr in den digitalen Raum zu wandern. Präsentierte Baas den Film noch im vergangenen Jahr als Projektion in einer Galerie, hat er ihn über die Anwendung auf dem Handy in ein tatsächlich funktionierendes Produkt übersetzt. Für den Preis von nur 99 Cent, so wurde auf Plakaten an den Hotspots der Stadt beworben, konnte das somit günstigste, „immateriellste" und „unlimitierteste" Designobjekt dieser Möbelmesse erworben werden. Das hätte man bisher selbst der Avantgarde nicht zugetraut.
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