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Die Architektur des Wohnens – 50 Jahre Endlosschrank

Weiter im System: eine Geschichte der Schrankwand von Interlübke.

von Norman Kietzmann, 27.08.2013

Weiter im System: Vor genau 50 Jahren brachte ein Schweizer Ordnung in das Durcheinander der Wohnzimmereinrichtung. Anstelle von Einzelmöbeln ersann der Gestalter Walter Müller ein universell einsetzbares System, das als Schrankwand nicht nur Designgeschichte schreiben sollte. Der revolutionäre Entwurf veränderte auch die Produktions- und Vertriebswege der gesamten Möbelbranche.

Eine gute Idee muss als solche erst einmal erkannt werden. Vergebens fuhr der Schweizer Designer Walter Müller 1961 durch Deutschland, um einen Hersteller für seinen neuen Entwurf zu begeistern. Was er im Sinn hatte, war so radikal wie weitsichtig gleichermassen. Wurde der Wohnraum bis dato mit einer Fülle aus Einzelmöbeln bestückt, solle die gesamte Inneneinrichtung nach seiner Vorstellung aus einem Guss zu planen sein. Der Vorteil seines Baukastensystems lag für ihn in der Überwindung von Gegensätzen. Die Möbel wären universell einsetzbar und ließen sich dennoch auf individuelle Maße und Wünsche abzustimmen. Den größten Sprung würde jedoch die Verschiebung der Maßstäbe bewirken: Indem Schränke ganze Wände bespielen, wären sie plötzlich Teil der Architektur – ein Aspekt, der in der handwerklich geprägten Möbelbranche bislang noch nicht ins Auge gefasst worden war.

Vom Einzelmöbel zum System
Interesse erfuhr Walter Müller von verschiedenen Seiten. Doch nur Leo Lübke, Inhaber des 1937 gegründeten Möbelherstellers Gebrüder Lübke, erklärte sich bereit, den Entwurf 1963 in Produktion nehmen. Der Systemgedanke kam für den Unternehmer zum richtigen Zeitpunkt, da er nicht nur die Produktion, sondern auch den Vertrieb von Wohnraummöbeln verändern würde. Der Grund dafür lag in den etablierten Strukturen der Branche: Denn bis in die sechziger Jahre hinein blieben die Namen der Möbelhersteller weitgehend unbekannt. Die Kunden gingen zu ihren lokalen Händlern, die die Einrichtung unter ihrem eigenen Namen auslieferten, anstatt die Zulieferer preiszugeben.

Leo Lübke erkannte, dass er der Anonymität entfliehen musste, um mit Systemmöbeln erfolgreich zu sein. Bereits 1960 erfolgte die Umbenennung des Unternehmens in Interlübke, später ließ er mehrsprachige Anzeigen in Tageszeitungen und Magazinen schalten. Auch ein durchgehend fotografierter Katalog – der erste der Möbelbranche – gehörte zum Konzept, um das Unternehmen als erkennbare Marke zu positionieren. Dass die Händler diese Schritt nicht goutierten, lag auf der Hand. Schließlich drohten sie, ihre eigene Attraktivität zugunsten der Hersteller zu verlieren. Der Konflikt ging sogar soweit, dass einige Händler in Anzeigen mit der Zeile „Es muss nicht immer Interlübke sein“ abrieten und auf Produkte der Konkurrenz verwiesen. Doch der Angriff kam zu spät. Der Name des ostwestfälischen Unternehmens hatte sich bereits als Synonym für Systemmöbel etabliert.

Universell einsetzbar
Verkauft wurden die Schränke zunächst unter dem Namen Interlübke 63, die Jahreszahl der Markteinführung wurde alllerdings später weggelassen. Ein logischer Zug. Schließlich produzierte das Unternehmen lediglich ein einziges Programm, mit dem sich allerdings eine gesamte Wohnungseinrichtung planen ließ. Lagen die Ursprünge der Schrankwand in der Ausstattung von Schlafzimmern, eroberte sie bald den gesamte Wohnraum einschließlich Ess-. Kinder- und Arbeitszimmer.

Das Prinzip der endlosen Erweiterbarkeit basierte auf der Aneinanderreihung türbreiter Elemente. 230 Zentimeter betrug die Standardhöhe der 58,4 und 56,2 Zentimeter breiten Module, während die Tiefe zwischen 61 und 45 Zentimetern variierte. Damit die Schrankwand tatsächlich als Wand erschien, wurden die Zwischenräume zur Decke verblendet. Die Besonderheit des Systems lag in der Kontinuität des Rasters. Weil keine vorgefertigten Module übereinander oder nebeneinander gereiht werden, blieben doppelte Böden und Seitenwände aus – ein Umstand, mit dem sich Interlübke auch in den Folgejahren von preisgünstigeren Konkurrenten abheben konnte.

Bühnen des Alltags
Wurden die Fronten in den sechziger Jahren noch vorzugsweise mit Holzfurnieren verkleidet, etablierte sich bald ein neutrales Weiß als neuer Standard. Obwohl bis heute eine breite Palette an Farben und Holzoberflächen angeboten wird, erzielen Weiß und Grauweiß noch immer knapp neunzig Prozent des Umsatzes. Auch an dieser Stelle wird deutlich: Das System ist kein Akteur, sondern lässt als Bühne und Aufbewahrungsraum den übrigen Einrichtungsgegenständen den Vortritt.

Die Evolution der Schrankwand offenbart die Beziehung zur Wand. Wurde in den sechziger Jahren zumeist nur eine einzelne Wand bespielt, eroberte das Systemmöbel in den siebziger Jahren den gesamten Raum. Neben klassischen Regal- und Ablagefächern konnten die Schränke ebenso mit Klappbetten ausgestattet werden, die hinter drehbaren Bücherregalen verborgen wurden. Passend zum Schranksystem wurde eine Polsterfront angeboten, die sich mit einer hohen Kopfstütze schützend um ihre Be-Sitzer stülpte und auf planer Ebene mit dem Raster der Kommoden abschloss.

Von der Wand in den Raum
Waren die Schränke zunächst an die Wand fixiert, geriet diese Abhängigkeit zunehmend ins Wanken. Bereits das System Studimo (1976) ließ sich als Raumteiler in Szene setzen, der geschlossene und offene Ablagen in rhythmischer Abfolge miteinander kombinierte. Von skulpturaler Wirkung war das Modell Duo (1983), das geschlossene, vertikale Volumina durch offene, horizontale Ebenen verband. Geradezu puristisch wirkte das Kommodensystem travo (Entwurf: Rolf Heide, 1998), das als schwebendes Band an die Wand platziert wurde und auf einen erdenden Sockel verzichtete. Wie eine Drehbühne trat das TV Center (2000) in den Raum, das zwischen Decke und Boden eingespannt wurde und um die eigene Achse zu rotieren vermochte.

Einen deutlichen Akzent setzte das System eo (2001) mit transluzenten Seitenwände und Fronten. Der Entwurf von Wulf Schneider war das erste Aufbewahrungsmöbel, das von Innen heraus illumiert wurde. Plastische Tiefe brachte das System Reef (2010) von Eva Paster und Michael Geldmacher ins Spiel. Anstatt eine geschlossene, homogene Fläche zu bilden, wurde die Schrankwand mithilfe von vor- und zurückspringenden Ebenen als Relief in Szene gesetzt.

Wandel des Zeitgeists

Bewegung kam unterdessen auch von anderer Seite: „Immer mehr Kunden setzen heute lieber auf Einzelmöbel, um sich nicht festzulegen. Vielleicht ziehen sie nach fünf Jahren wieder um und wollen den Schrank nicht zurücklassen, der perfekt auf die Wohnung abgestimmt wurde“, erklärt Leo Lübke, der das Unternehmen Interlübke heute in dritter Generation leitet. Mit dem System Bookless (2011) von Gino Carollo und René Chyba wurde ein Regal für das Zeitalter von E-Books präsentiert. Kein Aufbewahrungsort für schwere Bibliotheken, sondern eine Bühne für dekorative Objekte, Skulpturen oder Souvenirs. „Das Möbel will etwas zeigen und präsentieren. Also genau entgegengesetzt zu dem, was wir früher gemacht haben“, beschreibt Leo Lübke den Wandel der Branche.

Auch das klassische Aufbewahrungsmöbel tritt deutlich leichter und flexibler in Erscheinung. Das System Cube (2001) von Werner Aisslinger wurde 2013 um das Programm Cube Play ergänzt. Die geschlossene Schrankwand weicht einer Vielzahl autarker Kuben, die auf spielerische Weise an der Wand kombiniert werden können. Wenn die Kunden umziehen, lassen sich die Module problemlos an jede neue Umgebung anpassen. Der Systemgedanke von Walter Müller hat damit keineswegs ausgedient. Ganz gleich, wie nomadisch wir mittlerweile leben: Das Bedürfnis, die Dinge des Alltags mithilfe eines Systems zu bändigen, bleibt weiterhin bestehen. Selbst dann, wenn aus einem System wieder Einzelmöbel abgeleitet werden.

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