Stories

Die Augen des Designs

von Norman Kietzmann, 29.03.2011


Sie waren die Chronisten des italienischen Designs. Mit seinen klaren, unprätentiösen Aufnahmen hat das Mailänder Fotografenpaar Aldo und Marirosa Ballo Produkte nicht nur abgelichtet. Es hat sie derart raffiniert in Szene gesetzt, dass sie vor der Kamera lebendig wurden. Über einen Zeitraum von vier Jahrzehnten dokumentierte das Paar nicht nur die rasante Entwicklung des italienischen Designs seit Beginn der fünfziger Jahre, sondern gab den heutigen Klassikern ebenso eine visuelle Kontinuität. Siebzehn Jahre nach dem Tod von Aldo Ballo widmet das Vitra Design Museum in Weil am Rhein den Pionieren der Produktfotografie derzeit eine Retrospektive.



Sie bekamen sie alle vor die Linse: Bruno Munari, Enzo Mari, Achille & Piergiacomo Castiglioni, Gaetano Pesce, Gae Aulenti, Richard Sapper, Angelo Magiarotti oder Alessandro Mendini. Noch bevor die berühmten Gestalter mit ihren Entwürfen an die Öffentlichkeit gingen, betraten sie das Studio in der Via Tristano Calco und ließen diese dort ablichten: von Aldo und Marirosa Ballo, den Haus- und Hoffotografen des italienischen Designs.

Interpretation der Dinge

„Aldo Ballo war das dritte Auge ganzer Generationen von Architekten und Designern“, sagt Adolfo Natalini, Architekt und Mitbegründer der Gruppe Superstudio, der selbst regelmäßig im Fotostudio der Ballos zu Gast war. Auch wenn der Stil der Aufnahmen stets sachlich und unprätentiös blieb, war das Ergebnis alles andere als steril oder gar trocken. Die Fotos waren nicht nur eine Dokumentation, sondern vielmehr eine Interpretation des Gegenstands, den Aldo Ballo – aufgebaut vor einem zumeist weißen, neutralen Hintergrund – mit sezierendem Blick einfing. Es ging darum, wie Ballo selbst formulierte, „in die Objekte hinein zu gehen“, um ihre Gestalt zu erfassen und in der richtigen Perspektive auf den Punkt zu bringen.

Dass Fotos weit mehr als nur die simple Abbildung eines Produkts sein können, war in den frühen fünfziger Jahren noch als Novum. Sowohl für Aldo als auch Marirosa Ballo begann der Weg zur Fotografie keineswegs zufällig. Kennengelernt haben sich beide an der Mailänder Accademia di Belle Arti di Brera. Aldo, der 1928 im sizilianischen Sciacca geboren wurde, studierte Architektur und Marirosa, die 1931 in Mailand geboren wurde und Kunst studierte, betreute ihn als Tutorin. Das klingst zunächst nicht sonderlich verdächtig, doch Marirosa entstammte einer Familie, die wie kaum eine andere die italienische Fotografie geprägt hat. Ihr Vater Fedele Toscani zählt zu den ersten Fotoreportern Italiens und unterhielt die renommierte Agentur Rotofoto. Kein Wunder also, dass sowohl Marirosa als auch ihr jüngerer Bruder Oliviero Toscani, der später mit seinen polarisierenden Werbekampagnen für Benetton für Aufmerksamkeit sorgen sollte, eine eindrucksvolle Karriere als Fotografen einschlugen.

Vorreiter der Fotografie

Angesteckt von der Leidenschaft fürs Fotografieren wurde nun auch der junge Aldo Ballo, der mit ersten Fotoreportagen für die Agentur Rotofoto zu arbeiten begann. Nachdem Fedele Toscani aufgrund eines schweren Unfalls erkrankte, unterbrach Marirosa ihr Studium und übernahm für zwei Jahre die Leitung der Agentur. Auch sie war parallel als Fotografin tätig und dokumentierte unter anderem den Besuch Eisenhowers 1949 in Italien. Nach der Genesung ihres Vaters kehrte sie schließlich an die Hochschule zurück und machte ihren Abschluss.

Im Januar 1953 gründete das junge Paar sein erstes eigenes Fotoatelier in einer Wohnung in der Via Settembrini, die sie sich mit einem befreundeten Grafikdesigner und einem Maler teilten. Nach ihrer Hochzeit bezogen sie im Dezember 1953 ihre eigenen Räume in der Via Santa Croce, die als Wohnung, Studio und Ausstellungsraum in einem diente. Im Wirtschaftsboom der fünfziger Jahre war das Studio Ballo & Ballo zur richtigen Zeit am richtigen Ort – schließlich mussten all die neuen Produkte, Gebäude und Interieurs fotografisch dokumentiert werden. Zu ihren ersten Kunden gehörten die Reifenfirma Pirelli, die Kaufhauskette La Rinascente oder die damals gegründete Zeitschrift Abitare. Nachdem die Aufträge weiter zunahmen, bezog das Studio 1957 seine weitaus größeren Räume in der Via Tristano Calco, wo es bis zu seiner Auflösung 1994 blieb.

Chronisten des Wirtschaftswunders

In den lichtdurchfluteten Räumen gaben sich fortan die Größen des italienischen Designs die Klinke in die Hand. Indem nahezu alle wichtigen Hersteller und Gestalter den Ballos die Bildsprache ihrer Entwürfe anvertrauten, entstand eine einmalige und fast lückenlose Chronik der fünfziger bis neunziger Jahre. „All die Meisterwerke des italienischen Designs marschierten zur Parade auf dem schneeweißen Set, dem berühmten Ballo-&-Ballo-Laufsteg, und wurden durch die homogene Regie, Kulisse und den Umgang mit Licht und Schatten miteinander vergleichbar“, erklärt Alessandro Mendini den dokumentarischen Wert der Arbeiten. Über 146.000 Aufnahmen lagern heute im Archiv, in das sämtliche vom Studio aufgenommenen Fotografien kontinuierlich eingelagert und mit fortlaufenden Nummern versehen werden.

Warum jeder mit Aldo Ballo arbeiten wollten, erklärt Ettore Sottsass ganz pragmatisch: „In diesen Jahren hatte nur Aldo Ballo ein derart großes, sauberes und aufgeräumtes Studio. Nur er hatte die neueste Technik und Ausrüstung und wusste, wie er damit umgehen musste.“ Doch die technische Versiertheit allein war es nicht. Ballo, der schließlich selbst Architektur studiert hatte, wollte die Objekte verstehen und sie auf visuelle Weise erklären. „Er bewegte sich immer langsam und lautlos in seinem großen Studio, als hätte er Angst, ein schlafendes Biest zu wecken. Er bewegte sich deswegen langsam, um mehr Zeit zum Nachdenken zu haben, was als Nächstes passieren würde, um sich zu konzentrieren. Er konzentrierte sich sehr stark“, erinnert sich Ettore Sottsass an die gemeinsame Arbeit.

Perfektion auch ohne Photoshop

Anders als die meisten anderen Fotostudios besaßen Aldo und Marirosa Ballo ein eigenes Labor für die Entwicklung der Filme und Anfertigung der Abzüge – nichts sollte dem Zufall überlassen werden. Dieses Maß an Perfektion galt auch für die Umsetzung der Aufnahmen, die zuvor am schwarz-weiß gekachelten Küchentisch genau besprochen wurden. „Es gab keinen Bedarf für Photoshop-Retuschen oder andere Arten der Bildmanipulation, weil sie viel zu präzise gearbeitet haben. Ich bin mir sicher, dass sie niemals Photoshop benutzt hätten, selbst dann, wenn das Programm schon damals zur Verfügung gestanden hätte“, ist sich Michele De Lucchi sicher, der als junger Memphis-Designer oft Tage im Studio der Ballos verbrachte. 

Diese fotografierten nicht nur Produkte, sondern ebenso Interieurs wie die transformierbare Wohneinheit von Joe Colombo (1970) in dessen Mailänder Wohnung, von Ettore Sottsass eingerichtete Showrooms von Esprit in Köln, Düsseldorf oder Berlin (1986), das Wohnhaus Veritti von Carlo Scarpa in Udine (1982) bis hin zum Landhause von Oswald Mathias Ungers unweit von Trier (1991). Zu den bekanntesten Aufnahmen der Ballos zählt die übergroße Moloch Lamp von Gaetano Pesce (1972), unter der sie einen sitzenden Hund zum Größenvergleich platzierten. Der Stuhl Selene von Vico Magistretti wurde in dezenten grafischen Linien wiedergegeben, während das Konstruktionsprinzip des Tischs Eros von Angelo Magiarotti (1976) in nur einem Bild eingefangen wurde.

Vom Labor zum Konzert

Bis zu 30 Mitarbeiter waren zeitweilig im Studio von Aldo und Marirosa Ballo beschäftigt, das nach dem Tod von Aldo Ballo im Oktober 1994 aufgelöst wurde. Viele von ihnen waren angehende Fotografen, die über einen Zeitraum von fünf Jahren umfassend ausgebildet wurden. Einer von ihnen, Fabio Cirifino, konnte sich an den Abend des 24. Juni 1965 noch genau erinnern: „Der Arbeitstag im Studio musste viel früher zu Ende gehen als sonst üblich. Wir alle waren aufgeregt und überdreht. Es gab keine Zeit zu verlieren. Die Arbeit musste um Punkt fünf Uhr fertig sein. [...] Die Zeit rannte und wir schauten ständig auf unsere Uhren und wünschten uns beinahe, wir könnten sie anhalten: Ein Tag von fieberhafter Aufregung, den ich nie vergessen werde.“ Den Grund für die ungewohnte Eile lieferte Cirifino gleich mit: „An demselben Abend gaben die Beatles ihr erstes Konzert in Italien im Velodromo Vigorelli und wir sind alle hingegangen, das gesamte Studio.“



Weitere Information

Zoom. Italienisches Design und die Fotografie von Aldo und Marirosa Ballo.
Noch bis zum 3. Oktober 2011 im Vitra Design Museum in Weil am Rhein.
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Links

Vitra Design Museum

in Weil am Rhein

www.design-museum.de

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