Die dritte Kategorie
Anlässlich der aktuellen Gerrit-Rietveld-Retrospektive begibt sich das Vitra Design Museum in Weil am Rhein auf die Spuren zeitgenössischer Gestaltung in den Niederlanden. Confrontations: Contemporary Dutch Design lautet der Titel der Schau, die in Zusammenarbeit mit dem niederländischen Designinstitut Premsela entstand. Anstatt eine Auswahl bereits existierender Produkte vorzustellen, wurden fünf Gestalter eingeladen, mit Unternehmen aus der Region Basel ein gemeinsames Projekt umzusetzen – vom Schokoladenhersteller bis hin zum Autozulieferer. Ein Konzept, das Schule machen könnte?
Es geschieht leise und bleibt doch nicht unbemerkt: Neben Arbeiten für die Serie und limitierten Editionen etabliert sich zunehmend eine dritte Kategorie im Produktdesign: kuratierte Kooperationen, bei denen junge Gestalter mit Unternehmen aus einer bestimmen Region oder Branche gemeinsam ein Projekt entwickeln. Anders als bei klassischen Branding-Aktionen, bei denen Andy Warhol ein Auto bemalt, Tobias Rehberger Espressotassen dekoriert oder Karl Lagerfeld einer Colaflasche ein neues Gewand verpasst, geht die Kooperation über die rein äußerliche Umgestaltung eines existierenden Produkts hinaus.
Die Designer, die von den Kuratoren einer Ausstellung oder den Organisatoren einer Design Week mit einem bestimmten Hersteller in Kontakt gebracht werden, erhalten für die Entwicklung eines neuen Produkts freie Hand. Von Seiten des Unternehmens wird ihnen Zugriff auf die eigenen Maschinen und Materialien gewährt und zudem technische Hilfe bei der Umsetzung angeboten. Indem der zeitliche Rahmen auf die bevorstehende Präsentation der Arbeiten begrenzt wird und im Anschluss keine Verbindlichkeiten zur tatsächlichen Produktion bestehen, bleibt das Risiko für die Unternehmen überschaubar. Was entsteht, ist eine temporäre Nische zum Experiment, von dem beide Seiten profitieren können.
Von Schokolade bis Pharma
Als Vorreiter dieser Entwicklung kann die Vienna Design Week gelten, die junge Gestalter mit alteingesessenen Wiener Manufakturen zusammenarbeiten lässt. Während die Nachwuchsdesigner auf diese Weise Einblicke in Herstellungsprozesse erhalten, die an den Hochschulen nur selten thematisiert werden, erhalten die Manufakturen frischen Wind von außen. Liegt der Schwerpunkt der Kooperationen auf rein handwerklichen Herstellungsverfahren, holt die Confrontations-Ausstellung in der Galerie des Vitra Design Museums ebenso Unternehmen aus der Industrie mit ins Boot.
Insgesamt fünf niederländische Designteams wurden von der Kuratorin Amelie Znidaric eingeladen, mit einem Unternehmen aus der Region Basel ein gemeinsames Projekt zu entwickeln. So arbeitete Studio Formafantasma mit der Köhlerin Doris Wicki, Wieki Somers mit der Konfiserie Rafael Mutter, Lucas Maasen mit dem Pharmaunternehmen Roche, Dirk Vander Kooij mit dem Autozulieferer A. Raymond und 2012Architecten mit Vitra zusammen. Vorgestellt wurden die Projekte während der Design Miami Basel nicht mit einer simplen Vernissage, sondern veinem fünftägigen Performance-Programm. Der Grund: Die Dinge sollen im Kontext ihrer Entstehung betrachtet werden, der den Besuchern somit unmittelbar vor Augen geführt wird.
Fragmentierte Kristalle
Dass das Design die Ebene des Sichtbaren verlassen und sich die Nanotechnologie zu Nutze machen würde, war die zentrale These von Norbert Bolz‘ 2006 veröffentlichtem Manifest bang_design. Wie konkret diese Vorstellung werden kann, zeigte der Designer Lucas Maasen bereits 2009 mit seinem lediglich fünf Mikrometer großen Nano Chair. Auch in seiner Kooperation mit dem Basler Pharmahersteller Roche vollzog der Gestalter aus Eindhoven einen Sprung in den Maßstäben und ließ DNA-Fragmente kristallisieren. Das Ergebnis, das mit Experten für Medizinalchemie und computergestütztem Moleküldesign erarbeitet wurde, lässt sich ebenfalls nur unter dem Elektronenmikroskop betrachten. Um die Ausstellung dennoch nicht mit leeren Händen zu bestreiten, ließ Maasen die DNA-Stränge in millionenfacher Vergrößerung von der Wiener Kristallmanufaktur Lobmeyr nachbauen. Insgesamt eintausend dieser Module wurden während einer Performance zu einer Kristallleuchte verarbeitet.
Einen veritablen Bausatz hat unterdessen Dirk Vander Kooij in Zusammenarbeit mit dem Autozulieferer A. Raymond entwickelt. Das Unternehmen aus Lörrach begann vor 126 Jahren mit der Herstellung von Druckknöpfen für Handschuhe und Schuhe und gilt heute als weltweit zweitgrößter Hersteller von Befestigungselementen in der Automobilindustrie. In Anlehnung an computergenerierte Visualisierungen, die auf der Addition von Polygonen basieren, stattete Vander Kooij metallene Dreiecke mit einem speziellen Verbindungsmechanismus aus. In einer Performance fertigte er aus ihnen zusammen mit den Ausstellungsbesuchern verschiedene Möbel und Objekte an.
Brot aus Kohle
Eher von flüchtiger Natur ist die Zusammenarbeit der Designerin Wieki Somers aus Eindhoven mit dem Freiburger Schokoladenhersteller Rafael Mutter. Zwei große Torten aus verschiedenen Schokoladensorten wurden von ihr wie ein Stück Schweizer Tête de Moine-Käse mit einem kurbelartigen Messer abgeschabt. Aus den dünnen Streifen wurden während einer Performance Eisdrinks für die Besucher gemixt. Fürs leibliche Wohl sorgten ebenso Andrea Trimarchi und Simone Farresin vom Eindhovener Designbüro Studio Formafantasma. Von einem Glasbläser und einem Schnitzer ließen sie Gefäße aus Glas mit passenden Filtern aus Holz anfertigen, die von der Köhlerin Doris Wicki in unterschiedlichen Graden verkohlt wurden. Neben Wasser, das mit der so gewonnenen Holzkohle gefiltert wurde, wurde auch ein aus Mehl und Kohlenstaub gebackenes Brot angeboten, das zu einer besseren Verdauung führen soll.
Das niederländische Architekturbüro 2012Architecten hat sich mit dem Einsatz recycelter Materialien einen Namen gemacht und benutzte für die Umgestaltung des Spielplatzes Wikado in Rotterdam ausrangierte Rotorblätter von Windturbinen. Für die Confrontations-Ausstellung durchforstete das Team um Jeroen Bergsma, Jan Jongert und Césare Peeren die Produktionshallen von Vitra nach Bauteilen und Materialien, die die Qualitätskontrolle nicht bestanden haben. Die ausrangierten Metallrahmen von Eames-Drehstühlen ließen sie mit Planken aus Kirschholz zu einer mäandernden Sitzskulptur verkleiden, die unter den Kirschbäumen gegenüber dem Vitra Design Museum gezeigt wurden. Die Rolle der Performance übernahmen dabei nicht die Architekten, sondern die Besucher, die auf dem Möbel herumkletterten und den vermeintlichen Abfall zu seiner ursprünglichen Bestimmung zurückführten.
Design als Moment
Dass die Performance als neues Medium im Design verstanden wird, mag überraschen. Und auch, dass Hersteller und Gestalter für ein Projekt zusammenfinden und anschließend wieder ihrer Wege gehen, ohne an ein Produkt für die Serie zu denken. Was sich mit dieser Haltung verändert, ist der Fluss der Zeit. Das Design wird schneller, spielerischer, ephemerer. Gewiss, nicht alles, was auf diese Weise entsteht, wird auf Dauer von Bestand sein. Das muss es auch nicht, weil der geringe materielle Aufwand – anders als bei schlecht durchdachten Serienprodukten – selbst manchen Schnellschuss rehabilitiert. Vielleicht wird das Design in Zukunft noch stärker den Moment fokussieren: So wie die bunten Schokoladenringe von Wieki Somers, die schon nach wenigen Sekunden auf der Zunge zergehen.
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