Stories

Die Sehnsucht nach Gemütlichkeit

von Norman Kietzmann, 10.07.2007

Mit dem Design der Gegenwart ist es schon eine merkwürdige Sache. Ging es früher vor allem um den Bruch mit den Konventionen bürgerlichen Wohnens, kehren in den letzten Jahren immer mehr Designer zurück zu einer konservativen Klassik, in der die Sehnsucht nach Ruhe und Geborgenheit ihren Ausdruck findet. Und so glichen die wichtigen Leitmessen in Mailand und Köln nicht selten einer Verkaufsausstellung für Retro- oder Seniorendesign anstatt einer Leistungsschau der Gegenwart. Was ist also passiert? Steckt das Design in einer Krise?
Die Ursache für diese Entwicklung ist relativ leicht gefunden. Schließlich steckt der Einrichtungsbranche noch immer der Schreck der Jahrtausendwende in den Knochen, als nicht wenige durch den Crash der New Economy ihr Kapital verloren und fürs erste nicht mehr in Möbel investieren wollten. Die Verunsicherung nach dem 11. September tat ihr Übriges, um die Möbelindustrie an den Rand des Ruins zu treiben. Was also tun, fragte man sich und erkannte den Ausweg vor allem auf jenen Pfaden, die schon immer Erfolg versprachen. So distanzierten sich selbst die innovativen Hersteller in kürzester Zeit von allzu progressiven Entwürfen und legten stattdessen den Fokus auf zeitloses Design, das auch in zehn bis fünfzehn Jahren nichts von seiner Aktualität einbüßen soll. Die Formensprache wurde klarer, zurückhaltender und auch ein Stück weit konservativer. Und bei den Materialien traten vor allem jene in den Vordergrund, die bleibende und verlässliche Werte zu suggerieren vermochten wie Holz oder Leder. Der Ausweg aus der Krise wurde mit einem Null-Risiko-Konzept vollzogen und wie die aktuell sehr stolzen Umsatzzahlen belegen auch auf eine überaus erfolgreiche Weise.
Neue alte Freunde
So überrascht es auch nicht, dass derzeit vor allem die Klassiker wieder hoch im Kurs stehen. Schließlich gibt es kaum etwas Verlässlicheres in schwierigen Zeiten als die allseits bekannten Highlights der Designgeschichte, die mit ihrer Platzierung in renommierten Museen zudem auch über ein offizielles Gütesiegel verfügen. So zeigte Cassina im letzten Jahr zur Mailänder Möbelmesse eine ganze Ausstellung über die Möbelentwürfe Le Corbusiers und Charlotte Perriands, anstatt wie sonst neue Entwürfe zu präsentieren. Und Vitra inszeniert derzeit anlässlich des 100. Geburtstages von Charles und Ray Eames eine Sonderschau in Weil am Rhein, um deren gestalterisches Vermächtnis ebenfalls nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Diese Tendenz hat dazu geführt, dass mittlerweile selbst neue Entwürfe versuchen, schon wie Klassiker zu wirken. So hat der Pariser Designer Ora Ito einen kokonartigen Sessel entworfen, der sicher nicht ganz zufällig an Arne Jacobsens Ei-Sessel erinnert.
Holz reloaded
Holz ist derzeit noch immer in all seinen Facetten bestimmend. Neben heimischer Eiche, Birne oder Kirsche sind verstärkt auch tropische Hölzer wie Teak oder Palisander zu sehen, die zuletzt in den 1970er Jahren ihre Blütezeit erlebten. Doch Holz an dieser Stelle von vornherein als rückwärts gewand und bieder zu betrachten, wäre etwas zu vorschnell geurteilt. So zeigt das deutsche Label E15, wie frisch und zeitgemäß Holz durchaus wirken kann. Ihr bekannter Backenzahnhocker besticht dabei vor allem durch die Kombination einer ursprünglichen, beinahe archaisch wirkenden Form mit der sinnlichen Haptik und Farbigkeit des Holzes.
Die neue Lust am Ornament
Doch nicht nur das Holz hat seinen Weg zurück in die Interieurs moderner Großstädter gefunden. Quasi durch die Hintertür zog mit ihm auch das Ornament wieder ein, ob im Textilbereich mit auffällig dekorativen Mustern und viel Farbe oder durch zahlreiche ornamental verzierte Objekte. Vorreiter in dieser Bewegung ist vor allem der Holländer Tord Boontje, der 2004 für Moroso ganze Räume mit Lianen aus Blumenmotiven bespannte und in einem urbanen Dschungel verwandelte. Für Habitat entwarf er nach ähnlichem Prinzip den Leuchtenschirm Garland. Dieser besteht aus einem einfachen Stück Blech, in das ein florales Muster hineingestanzt wurde. Nimmt man dieses aus seinem Rahmen heraus, lässt es sich auf spielerische Weise um eine nackte Glühbirne wickeln. Ein banales Massenprodukt wird dadurch mit wenig Aufwand in einen eindrucksvollen optischen Akzent verwandelt. Dass der Hang zum Ornament auch eine amüsante und befreiende Wirkung haben kann, zeigte der Holländer Joris Laarman 2003 mit seinem ornamental geschwungenen Heizkörper Heatwave für droog. Anstatt eines hässlichen weißen Blocks präsentiert sich dieser als eine üppig barocke Skulptur, der man ihre eigentliche Bestimmung auf den ersten Blick gar nicht ansieht. Der funktionale Aspekt des Heizens gerät in den Hintergrund und wird um eine dekorative Wirkung erweitert.
Digital und rustikal
Interessanterweise ist es vor allem die junge Generation, die das Ornament für sich entdeckt und zum willkommenen Anlass nimmt, die Möglichkeiten der neuen digitalen Entwurfs- und Produktionsmethoden vollends auszunutzen. Ob Laser gecuttete Regale, Tapeten oder die im Sinterverfahren hergestellten Lampenschirme von MGX und Freedom of Creation, sie alle bedienen sich einer Formensprache, die noch vor zehn Jahren nicht hätten produziert werden können. Doch trotz einiger mehr oder weniger beeindruckender Beispiele bleibt es meist bei klassischen Deko-Objekten wie Vasen, Lampenschirmen oder lustigen Hockern anstatt wirklich innovative Produkte daraus zu entwickeln. Dabei steckt gerade in Technologien wie dem Sinterverfahren ein enormes Potential: Hier wird eine Pulvermasse Schicht für Schicht durch einen Laserstrahl verhärtet bis sie schließlich eine komplexe zusammenhängende Form bildet. Das Besondere daran ist, dass Einzelanfertigungen ebenso industriell hergestellt werden können wie größere Serien. Das Berliner Designbüro Vogt&Weizzenegger hat mit seinem bereits vor fünf Jahren präsentierten SinterChair die Vorteile dieser Technologie deutlich gemacht. Der Kunde kann die komplexe Wabenstruktur von Sitzfläche und Rückenlehne nach eigenen Vorlieben variieren, wodurch sich eine endlos hohe Anzahl an Variationsmöglichkeiten ergibt und er selbst Teil des Designprozesses wird. Etwas weiter in die Zukunft gedacht bedeutet dies einen grundlegenden Wandel im Vertrieb und der Verfügbarkeit von Waren. Denn wenn die Menschen eines Tages auch privat über eine Sinter-Druckmaschine verfügen, können sie sich Möbel oder kleine Maschinen einfach daheim ausdrucken.
Die Entdeckung der Natur
Im Ungang mit den neuen Möglichkeiten der Technik nehmen sich immer mehr Designer auch die Natur zum Vorbild. So zeigte der Holländische Designer Joris Laarman auf der diesjährigen Mailänder Möbelmesse seinen viel beachteten Bonechair, bei dem ein Computerprogramm, das das Wachstum von Knochen simulieren kann, die Verbindung zwischen Sitzfläche, Rückenlehne und Boden berechnete. Andere Designer wie die Campana Brüder aus Brasilien näherten sich der Natur eher spielerisch und entwarfen ein riesiges Sofa, das an eine Gruppe von Krokodilien erinnert, während das Holländische Büro „Front Design“ ganze Lampen in Form von lebensgroßen Pferden in die Wohnung holte. Subtiler ist die Hinwendung zur Natur dagegen beim französischen Designer Jean-Marie Massaud, dessen Hocker Truffle abstrakt an die begehrten Edelpilze erinnert.
Dass die Begeisterung für die Natur jedoch nicht gleichbedeutend mit einem besonders gestiegenen ökologischen Bewusstsein ist, zeigt bereits die zunehmende Verwendung tropischer Hölzer. In den Achtziger Jahren weitgehend verbannt aufgrund der gestiegenen Sensibilisierung gegenüber dem Raumbau in den Tropenwäldern, erleben sie heute ein unerwartetes Comeback, was angesichts der aktuellen Diskussionen zum Klimawandel einen leicht absurden Beigeschmack erhält. Die Anklänge an die Natur in den letzten Jahren sind daher auch weniger als Vorstöße in eine ökologische Richtung zu interpretieren als vielmehr als dekorativ formaler Trend.
Aussicht
Wohin wird die Reise also gehen in den nächsten Jahren? Zunächst muss man sich von dem Gedanken verabschieden, dass es erneut so große und weit reichende Sprünge geben wird wie einst in den 1960er und 1970er Jahren. Innovationen werden eher auf subtiler Ebene stattfinden und auch immer in einer altbekannten Gestalt daherkommen, da zu großer Fortschritt für viele schnell als Bedrohung empfunden wird. Schon jetzt werden immer mehr technische Komponenten wie Fernseher, Lautsprecherboxen, Beamer und ähnliches in scheinbar konventionelle Schränke integriert und damit zunehmend unsichtbar. Die Wohnung wird enttechnisiert, während sinnliche Materialien wie Holz, Leder und Textilien stärker in den Vordergrund treten. Ebenso dekorative und verspielte Elemente. Die Wohnung folgt nicht mehr einem durchgehenden Stil sondern wird zu einem Potpourri verschiedenster Geschmäcker, in dem sich Altes und Neues, Außergewöhnliches und Banales, Hässliches und Schönes miteinander verbinden. Doch war dies im Grunde nicht schon immer so? Der Unterschied zu früher ist jedoch der, dass wir diesen Umstand heute akzeptieren und nicht mehr nach der großen Formel suchen, die alles zusammenhält. Das Design kann daher auch keine ganzheitlichen Konzepte mehr liefern sondern lediglich eine Vielzahl individueller Lösungen. Die neuen Entwurfs- und Produktionsverfahren werden an dieser Stelle noch eine entscheidende Rolle spielen.
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