Stories

Die Stadt aus dem Nichts

von Norman Kietzmann, 23.11.2010


Sie gilt als gebaute Utopie der Moderne: Brasilia, die Stadt vom Reißbrett, die vor genau 50 Jahren in der brasilianischen Hochebene in nur vier Jahren Bauzeit errichtet wurde. Doch wie lebt es sich in einer Stadt, die wie aus einem Guss geplant und nicht natürlich gewachsen ist? Konzentrierte sich der brasilianische Beitrag zur Architekturbiennale in Venedig auf die Bauten Oscar Niemeyers, sucht eine Ausstellung in der Mailänder Triennale nun nach einem Leben jenseits der strengen Raster und wird fündig. Urban ist Brasilia vor allem dort, wo es sich der Planung entzieht.

Es begann mit einem Kreuz. Mitten in die brasilianische Hochebene hinein zeichnete der frisch gewählte Präsident Juscelino Kubitschek die Lage der neuen Hauptstadt hinein. Er hatte Großes vor: „50 Jahre Fortschritt in fünf Jahren“ versprach der Kandidat der Mitte-Links-Regierung, der im Januar 1956 die Macht übernommen hatte, und er ließ keine Zeit verstreichen. Nur wenige Tage nach seinem Amtsantritt legte seine Regierung den Termin für die Eröffnung der neuen Hauptstadt fest: Keine vier Jahre verblieben nun, bis die Regierung am 21. April 1960 in Brasilia ihre Arbeit aufnehmen sollte.

Moderne Selbstfindung

Doch so dynamisch Kubitschek agierte: Neu waren seine Pläne nicht. Schon in die Verfassung der ersten Brasilianischen Republik 1891 wurde der Bau einer neuen Hauptstadt in der brasilianischen Hochebene angeregt, um den Aufschwung von den Küstenstädten bis ins Landesinnere hineinzutragen. Auch wenn seine Vorgänger diese Vorgabe nicht ablehnten, war es erst Kubitschek, der die Pläne in den Mittelpunkt seiner Politik stellte. Der Ort, an dem die neue Hauptstadt entstehen sollte, war zu diesem Zeitpunkt noch derart ursprünglich, dass nicht einmal eine Straße in die dicht bewaldete Hochebene führte. Einzig mit dem Flugzeug und Helikopter startete Kubitschek zu seinen ersten Erkundungstouren und übernachtete anfangs sogar im Zelt, um sich einen direkten Eindruck vor Ort zu verschaffen.

Die Planung der neuen Stadt übertrug er dem Architekten und Städteplaner L&uactue;cio Costa, der den Symbolgehalt seiner Aufgabe durchaus wörtlich nahm: Er zeichnete den Grundriss der Stadt in Form eines Flugzeuges, dessen langgestreckter Rumpf die Gebäude der Regierung bilden, während Wohnen und Freizeit ihren Platz in den beiden Flügeln finden. Als Chef der staatlichen Baubehörde Novacap fiel Oscar Niemeyer die Aufgabe zu, Costas Pläne schließlich umzusetzen. Dass er dabei ganz im Sinne der Moderne arbeiten konnte, verstand sich beinahe von selbst. Während die Nachkriegsplanungen in Europa noch immer mit den Grundrissen der historischen Städte ringen mussten, war Tabula Rasa in Brasilia von Anfang an gegeben. Beste Voraussetzungen also, um gänzlich ohne Kompromisse ans Werk zu gehen.

Schwebend leichte Kurven

Was Niemeyer in wenigen Wochen entwarf, waren mehr als nur Gebäude. Er übersetzte die Institutionen der Regierung in verblüffend leichte Skulpturen, die der noch jungen Demokratie ein Gesicht geben sollten. Der Platz der Drei Gewalten, der Präsidentenpalast, das Oberste Gericht und der Kongress wurden zu architektonischen Ikonen, die sich bewusst von der Strenge der europäischen Moderne abgrenzen sollten. Mit ihrer organischen Formensprache nehmen sie einen klaren Gegenpol zu den strengen, kubischen Wohnblöcken ein, von denen sich jeweils zehn zu sogenannten Superquadras gruppierten. Untergebracht in den beiden Flügeln der Flugzeug-Stadt, verfügten sie über einen quadratischen Grundriss und waren von großflächigen Grünflächen umgeben. Als freistehende Solitäre, deren Erdgeschoss offen gelassen wurde, reichten die Parkanlagen bis in die Foyers der Wohnbauten hinein. Der Gartengestalter Roberto Burle Marx entwickelte hierzu eine betont geometrische Formensprache, die sie wie eine Fortsetzung der Gebäude wirken ließen.

Bis zu 40.000 Bauarbeiter waren gleichzeitig vor Ort, um die ehrgeizigen Pläne in die Realität umzusetzen. Mit der Enge der kolonialen Küstenstädte sollte die neue Hauptstadt nichts gemeinsam haben. Ganz im Sinne der Charta von Athen wurden Wohnen, Arbeiten und Freizeit voneinander getrennt – verbunden durch noch großzügigere Grünflächen und kaum weniger breite Straßen. Für Fußgänger blieb in dieser Planung kaum Platz. Mobilität versprach allein das Auto, das nicht nur als Zeichen des technischen Fortschritts begriffen wurde, sondern für Brasilien zugleich den Bruch mit seiner kolonialen Vergangenheit markierte.

Fortschritt im Zeichen des Öls

Wurde die Vergangenheit vor allem durch die Abhängigkeit vom Kaffeeexport bestimmt, versprach die Gründung des Ölunternehmens Petrobras eine stärkere wirtschaftliche Eigenbestimmung. 1953 hatte Kubitscheks Vorgänger Get&uactue;lio Vargas die Ölförderung teilweise verstaatlicht und sich somit eine Beteiligung an den Rohstoffeinnahmen gesichert, die zuvor noch größtenteils in den Händen US-amerikanischer Investoren lagen. Trotz dieser Repressalien gelang es Kubitschek, weitere ausländische Unternehmen ins Land zu holen. Nicht zufällig wurde ausgerechnet die Eröffnung des VW-Werks in Sao Bernardo do Campo 1959 zum Symbol für den wirtschaftlichen Aufstieg des Landes, für den Brasilia die passende Kulisse lieferte.

Doch so sehr die autogerechte Stadt mit ihren bis zu zwölfspurigen Straßen als Befreiungsschlag gewertet wurde, schuf sie zugleich neue Abhängigkeiten. Schwebte Niemeyer bei der Planung der Superquadras eine soziale Durchmischung vor, sah die Realität schon kurz nach der Fertigstellung Brasilias anders aus. Während die Mittelschicht aus Regierungsvertretern und Angestellten die Wohnungen im Zentrum bevölkerte, wurden weniger Einkommensstarke vor die Tore der Stadt verdrängt. Auch hierbei offenbarte sich eine gravierende Fehlplanung.

Wild wuchernde Favelas

Denn Platz gab es in der Stadt – die für 200.000 Bewohner innerhalb des Zentrumbezirks Planto Piloto und 400.000 weitere Einwohner in den ebenfalls von L&uactue;cio Costa geplanten Vorstädten ausgelegt wurde – nicht für diejenigen, die sie erbaut hatten. Die Arbeiter, die größtenteils aus dem armen Norden des Landes gekommen waren, dachten nach der Fertigstellung der Stadt aber nicht daran, in ihre Heimat zurückzukehren. Wohnraum fanden sie nicht nur in den zahlreichen Vorstädten, sondern zunehmend auch in wild am Stadtrand wuchernden Favelas, die denen von Rio oder São Paulo kaum nachstanden. Wie ein dichter Ring zogen sie sich immer enger um die Stadt und durchbrachen die Planung am Reißbrett mit einer unkontrollierbaren wie unberechenbaren Dynamik. Anstatt der ursprünglich vorgesehenen 600.000 Einwohner leben heute über 2,5 Millionen Menschen in der Stadt. Und die Bevölkerung wächst weiter.

War das Leben in Brasilia noch vor zehn Jahren von Pendlern bestimmt, die an den Wochenenden so schnell wie möglich in Richtung Rio oder São Paulo aufbrachen, kehrt zunehmend auch urbanes Leben in die Stadt ein. Waren Eckbars in der Vergangenheit kaum zu finden, sprießen sie derzeit wie Pilze aus dem Boden. Dynamik verspricht auch ein Umdenken in der Verkehrspolitik. Wurden bereits 2001 die beiden ersten U-Bahnlinien der Stadt eröffnet, befinden sich derzeit zwei weitere Routen im Bau. Bis 2014 sollen sie auch die beiden größten Vorstädte sowie den Flughafen mit dem Zentrum verbinden und die Stadt auch ohne das Auto passierbar machen. Lebensqualität steht schließlich nicht nur für kurze Wege zwischen Tiefgarage und Wohnung. Sie bedeutet auch jenes quirlige Treiben, das in den vorgefertigten Rastern der Stadt bisher vergebens zu finden war. Urban wird Brasilia vor allem dort, wo es sich der Planung entzieht.


Brasilia – Die realisierte Utopie
noch bis zum 23. Januar 2011
in der Mailänder Triennale
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Links

Mailänder Triennale

www.triennale.it

Brasilias grafischer Soundtrack

Die Fliesenreliefs und großformatigen Wandbilder von Athos Bulcão

www.designlines.de

BauNetzWOCHE 147: Brasilia

www.baunetz.de

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