Die Tiefe der Fläche
Die diesjährige maison & objet hat den Wahnsinn zur Inspiration erklärt: Drei gänzlich unterschiedliche Installationen widmeten sich unter dem Motto „crazy“ den Moden und Auswüchsen der Design- und Kunstszene. Die von der Pariser Designerin und Stilberaterin Elizabeth Leriche kuratierte „Dreambox“ entführte in eine Parallelwelt aus surreal gestalteten Räumen, in denen ungewöhnlich verformte Alltagsobjekte, verschobene Dimensionen und Perspektiven zu einer traumartigen Orientierungslosigkeit führten. Ein Raum versetzte die zahlreichen Besucher dabei besonders ins Staunen: Wie Trugbilder traten hier im Wechsel des farbig leuchtenden Lichts verschiedenste Kreaturen und Pflanzen auf den Wänden in Erscheinung - um gleich darauf wieder in der Unsichtbarkeit zu verschwinden.
Der Schlüssel zu diesem magisch wirkenden Effekt war eine durchdachte Kombination aus abwechselnd leuchtenden RGB-LEDs und der ebenfalls in den drei Primärfarben gehaltenen Tapete des Designerduos Carnovsky. Hinter dem klangvollen Namen verbergen sich die kolumbianische Industriedesignerin Silvia Quintanilla und der italienische Kunsthistoriker und Designer Francesco Rugi, die sich nach einem Masterstudium an der Domus Academy in Mailand 2007 unter dem Pseudonym Carnovsky zusammenschlossen.
„Color est pluribus unus“
Dieses berühmte Zitat Virgils bedeutet so viel wie „viele Farben werden zu einer“ und wird von den beiden Designern herangezogen, um ihre Arbeitsweise an der Tapetenserie RGB zu beschreiben. Beim Entwerfen war ihnen besonders wichtig, einen über das rein Dekorative hinausreichenden Effekt von Räumlichkeit zu erreichen. Dazu druckten sie drei figürliche Motivserien in den Farben Rot, Grün und Blau übereinander, sodass sie zu einem ornamentalen Mix aus Farbe und Form verschmolzen.
Der anschließende Spezialeffekt entsteht durch das Spiel mit der menschlichen Wahrnehmung. Erscheint die Tapete im weißen Licht noch wie ein buntes Feuerwerk aus Bildern, wirkt das gezielt eingesetzte farbige Licht wie ein Filter, der nur jeweils eine der drei Schichten des Musters sichtbar macht. So treten aus dem wirren Linienspiel plötzlich klare Konturen von Menschen, Tiere und Pflanzen hervor.
Metamorphose
Auf der Mailänder Design Week 2010 machten die beiden Designer von Carnovsky erstmals von sich reden. Für den Showroom des experimentierfreudigen italienischen Herstellers Jannelli & Volpi entwarfen sie eine Installation aus Tapeten, die das antike Thema der Metamorphose aufgriff. Sie bedienten sich naturhistorischer Stiche aus dem sechzehnten bis achtzehnten Jahrhundert, um daraus einen Motivkatalog zu erstellen. Anhand der Illustrationen von Aldrovandi und Ruysch, Linneus und Bonnaterre schufen sie eine Art modernes Bestiarium, das sich in mittelalterlicher Tradition auf der Grenze zwischen Realität und Fantasie, Wahrheit und Scheinwelt bewegt.
Das dreifarbige Gesamtbild wurde je nach Farbreiz einem stetigen Wandel unterworfen. Aus der ornamentalen Fülle entstand ein endlos sichtbar- und unsichtbar werdendes Panoptikum, das der Fläche einen Eindruck von Tiefe verlieh. Das erfolgreiche Konzept wurde noch im selben Jahr in der Johansson Gallery in Berlin ausgestellt, wo die Vielfalt der Motive durch die klassischen Charaktere des Kartenspiels Erweiterung fand. Eine lithographische Serie des „Reiters“ komplettierte die großformatige RGB-Serie im kleinen Maßstab.
Nachts im Dschungel
Für ihre Ausstellung RGB-La Selva. The Black Series in den Räumen der Londoner Kunstorganisation Jaguar Collective im Sommer und Herbst 2011 erkundeten Silvia Quintanilla und Francesco Rugi das Konzept des tropischen Regenwalds. Die Idee der vielschichtigen Fülle und Vielfalt eines verwachsenen Dschungels mit seiner schier grenzenlosen, im Dickicht lauernden Artenvielfalt inspirierte sie zu einem weiteren Motiv: der Nacht. So entwickelten sie eine neue Serie von Tapeten und Drucken, die Tag und Nacht darstellten. Ihre Weiterentwicklung RGB-The black series betrachten sie als eine Umkehrung ihrer bisherigen Arbeitsweise. Die rot, grün und blau gehaltenen Illustrationen werden auf einen schwarzen Untergrund gedruckt, sodass beim Einsatz des farbigen Filters ein Negativeffekt entsteht.
Da die Ausstellungsfläche des Londoner Kollektivs zweigeteilt ist, verwandelten sie einen Raum in den nächtlichen und einen in den taghellen Dschungel. Schon von der Straße aus war zu bewundern, wie ein grüner Farbreiz die üppige Flora des Regenwalds in Erscheinung treten ließ, ein roter hingegen die dahinter versteckten Lebewesen zum Vorschein brachte. Nur eine Tierart ließ sich erst beim Einsatz des blauen Filters wahrnehmen: die Sippe der lachenden Affen. Man darf gespannt sein, was für Kreaturen die beiden Designer auf der kommenden Mailänder Design Week im April aus der Tiefe der Fläche hervorzaubern werden.
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