Menschen

Mehr ist mehr

Britt Moran und Emiliano Salci von Dimorestudio im Porträt

Dimorestudio macht Schluss mit weißen Wänden und unscheinbaren Formen. Das Mailänder Kreativbüro gestaltet Interieurs und Einrichtungsobjekte. Mit ihrer eigenen Designgalerie kuratieren Britt Moran und Emiliano Salci zudem die Arbeiten großer Meister. Gegenwart und Vergangenheit sind bei ihnen keine Antipoden. Sie werden zu einer untrennbaren Einheit miteinander verwoben.

von Norman Kietzmann, 30.10.2019

Ab den Neunzigerjahren galt im Design eine verlässliche Gleichung: Das Zeitgenössische offenbart sich in der Zurückhaltung, in der bewussten Reduktion. Es ging um eine Fortführung der Moderne, die ganz bewusst die wilden Auswüchse der Postmoderne überwunden hat. Dekoration wurde belächelt, dass Schimmernde war suspekt. Heute ist es genau andersherum. Wer Minimalismus macht, macht sich verdächtig. Wer poppige Zitate auslässt, gilt plötzlich als Spielverderber. Ein Büro, das an dieser Stelle ganz weit vorne mitspielt, heißt Dimorestudio. 2003 wurde es vom Italiener Emiliano Salci und dem US-Amerikaner Britt Moran in Mailand gegründet. Nachdem es einige Jahre eher gemächlich für sie voranging, geben sie in der Branche längst den Ton vor. 

Pailletten für den Tag
Unterstützung hat das Duo aus der Mode erfahren. Dort hat Alessandro Michele im Januar 2015 die kreativen Geschicke von Gucci übernommen und das Florentiner Haus von einer Saison zur anderen zur hippsten Marke des Planeten gemacht. Mehr ist mehr, lautet seine Parole. Verspielte Muster, große Logos, Nachtclub-Glitzer-Pailletten als Tagesoutfit, Katzengesichter auf T-Shirts und Sneakers: ein großer Kindergeburtstag für Erwachsene. Der Maximalismus-Hype ist auch auf das Interieur- und Produktdesign übergeschwappt: in Form eines Wechselspiels aus Art-déco-Revival und poppiger Moderne-Interpretation.

„Wir mögen Dinge aus den Vierziger-, Fünfziger-, Sechzigerjahren, weil sie sehr viele Details besitzen. Sie kreieren die Atmosphäre für einen Raum“, sagt Britt Moran. Dimorestudio wollen Räume mit Wärme aufladen: als Innenarchitekten, die nicht nur Privatwohnungen, Hotels (Public Hotel Chicago, Hotel Saint Marc Paris), Restaurants (Leo’s im The Arts Club London, Ceresio 7 in Mailand) und Boutiquen (Fendi in Montecarlo, Dior in Saint Tropez, Oliver Peoples in Miami) gestalten. „Wir haben mit Inneneinrichtungen angefangen. Doch schon bald sind wir in eine Galerie hineingewachsen, wo wir historische Dinge zeigen, die wir als junge Designer gesehen und gemocht haben“, erklärt Moran weiter.  

Animalische Tapeten
Es sind Arbeiten von Gino Sarfatti, Osvaldo Borsani, Gio Ponti, Matthieu Mategot oder Carlo Scarpa: Designer, die nicht nur für die Großserie gearbeitet haben, sondern ebenso kostbare Einzelstücke und kleine Edition angefertigt haben. Jüngstes Beispiel sind die Reeditionen der italienischen Designerin Gabriella Crespi, die bei ihren Möbelentwürfen in den Sechzigerjahren intensiv mit einem Material gearbeitet hat, das Gucci-Gründer Guccio Gucci zuvor bereits für Handtaschengriffe populär gemacht hatte: Bambus.

Der Clou der Ausstellung im Apartment-Showroom von Dimorestudio an der Via Solferino in Stadtteil Brera: eine exakte Rekonstruktion des Schlafzimmers von Gabriella Crespi, deren Wände mit einer leuchtend gelben Tigerfell-Tapete überzogen sind. Auch hier wird die gestalterische Vernunft bewusst überzogen. Während nur wenige Meter Luftlinie entfernt im Showroom von Boffi puristische Küchen in Edelstahl und dunklem Stein präsentiert werden, feiern Dimorestudio das Wilde, Animalische, Exzessive. Over the Top als neue Normalität.  

Multiple Wege
„Wir mögen zeitgenössische Räume mit historischen Produkten. Alles was wir tun, basiert auf der Überlagerung unterschiedlicher Zeitepochen, Materialien und Stoffe“, sagt Britt Moran. Dimorestudio arbeiten nicht nur mit bestehenden Produkten, sondern fertigen auch eigene Entwürfe an: als Einzelstücke für Apartments oder für ihre Galerie. Als Kleinserie wie den Barwagen, den sie für den zur LVMH-Gruppe gehörenden Weinhändler Clos19 entworfen haben. Oder als Serienprodukte für Hersteller wie Cappellini, Bitossi oder ihre 2019 lancierte Eigenmarke Dimoremilano, die sowohl Möbel, Leuchten als auch Stoffe produziert.  

Überlagerung der Zeit
Am Anfang waren Dimorestudio zu zweit. Inzwischen ist das Team auf fast 40 Mitarbeiter angewachsen. „Wir mussten unsere Aufgaben teilen. Emiliano konzentriert sich auf die kreativen Aspekte, ich vor allem auf die Projektentwicklung und Öffentlichkeitsarbeit. Doch wir diskutieren die ganze Zeit, wodurch es immer spannend bleibt“, sagt Britt Moran. Wie sie an ihre Arbeit herangehen? „Wir bestimmen immer zuerst eine Zeitperiode, die wir für ein bestimmtes Projekt als inspirierend empfinden. Das kann vom Ort abhängen, jedoch auch vom Briefing des Kunden. Anschließend interpretieren wir diese Zeit, anstatt sie exakt nachbilden. Es ist also immer eine Mixtur aus Gegenwart und Vergangenheit“, erklärt Britt Moran.

Die vierte Dimension
Ein treffendes Beispiel dafür ist die Boutique One-Off in Brescia, wo Zitate der Popkultur wie Kulissen aus Stanley Kubricks 2001: Odyssee im Weltraum mit Phantasien der Sechzigerjahre-Avantgarde-Gruppe Archizoom und prähistorischen Möbelentwürfen von Andrea Branzi aus den Achtzigerjahren zu einer elektrisierenden Mixtur verbunden werden. „Bei den Boutiquen, die wir derzeit einrichten, gibt es eine Tendenz zum Wohnlichen. Im eigenen Zuhause ist es normal, sich mit Dingen zu umgeben, die angenehm und cosy sind. Doch für Verkaufsräume ist es etwas Neues. Damit die Kunden bleiben und den Raum erfahren, muss man etwas schaffen, das sie in der Boutique hält“, macht Britt Moran deutlich. Es klingt wie eine präzise Definition für den Anspruch von Dimorestudio: Räume und Produkte werden von ihnen nicht nur als dreidimensionale Gebilde begriffen, sondern um die vierte Dimension der Zeit erweitert. Es sind Erfahrungsräume, die ihrem eigenen Drehbuch folgen.

Facebook Twitter Pinterest LinkedIn Mail
Links

Dimorestudio

www.dimorestudio.eu

Mehr Menschen

Ein Designer in olympischer Höchstform

Mathieu Lehanneur im Gespräch

Mathieu Lehanneur im Gespräch

„Ein Schalter ist wie ein Uhrwerk“

Ein Gespräch über die Gira-Produktneuheiten mit Jörg Müller

Ein Gespräch über die Gira-Produktneuheiten mit Jörg Müller

„Alle am Bau Beteiligten haben Verantwortung“

Ein Gespräch über nachhaltiges Bauen mit Lamia Messari-Becker

Ein Gespräch über nachhaltiges Bauen mit Lamia Messari-Becker

Zwischen Euphorie und Askese

Studiobesuch bei Karhard in Berlin

Studiobesuch bei Karhard in Berlin

Die Storyteller von Södermalm

Studiobesuch bei Färg & Blanche in Stockholm

Studiobesuch bei Färg & Blanche in Stockholm

New Kids on the Block

Interior- und Designstudios aus Berlin – Teil 2

Interior- und Designstudios aus Berlin – Teil 2

„Wir müssen uns nicht verstellen“

Atelierbesuch bei Studio Mara in Berlin-Charlottenburg

Atelierbesuch bei Studio Mara in Berlin-Charlottenburg

New Kids on the Block

Interior- und Designstudios aus Berlin

Interior- und Designstudios aus Berlin

Neue Talente

Die wichtigsten Newcomer*innen des deutschen Designs

Die wichtigsten Newcomer*innen des deutschen Designs

Für die Schönheit des Planeten

Ein Gespräch über nachhaltige Möbel mit Andrea Mulloni von Arper

Ein Gespräch über nachhaltige Möbel mit Andrea Mulloni von Arper

Puzzle für die Wand

Interview mit Paolo Zilli, Associate Director bei Zaha Hadid Architects

Interview mit Paolo Zilli, Associate Director bei Zaha Hadid Architects

In Räumen denken

Vorschau auf die Boden- und Teppichmesse Domotex 2024

Vorschau auf die Boden- und Teppichmesse Domotex 2024

„Wenn man sich vertraut, kann man Kritik annehmen“

Muller Van Severen im Gespräch

Muller Van Severen im Gespräch

Conceptual Substance

Zu Besuch bei fünf crossdisziplinär arbeitenden Studios in Berlin

Zu Besuch bei fünf crossdisziplinär arbeitenden Studios in Berlin

„Ich betrete gerne Neuland“

Ein Gespräch über Akustik mit der Architektin Marie Aigner

Ein Gespräch über Akustik mit der Architektin Marie Aigner

„Mich interessiert, wie die Dinge im Raum wirken“

Peter Fehrentz im Interview

Peter Fehrentz im Interview

Sinn für Leichtigkeit

Das Designerduo Patrick Pagnon & Claude Pelhaître im Gespräch

Das Designerduo Patrick Pagnon & Claude Pelhaître im Gespräch

Experimentierfreudiges Duo

Im Designlabor von Niruk

Im Designlabor von Niruk

Perfekt im Griff

Jan Karcher von Karcher Design im Interview

Jan Karcher von Karcher Design im Interview

Eine widerständige Frau

Studiobesuch bei der Designerin Karen Chekerdjian in Beirut

Studiobesuch bei der Designerin Karen Chekerdjian in Beirut

Der stille Star

Nachruf auf den Mailänder Gestalter Rodolfo Dordoni

Nachruf auf den Mailänder Gestalter Rodolfo Dordoni

Das Beste aus zwei Welten

Jungdesignerin Anna Herrmann im Porträt

Jungdesignerin Anna Herrmann im Porträt

Klasse statt Masse

Urlaubsarchitektur-Gründer Jan Hamer im Gespräch

Urlaubsarchitektur-Gründer Jan Hamer im Gespräch

„Der Prozess wird zum Echo“

Katrin Greiling über die Arbeit mit gebrauchtem Material

Katrin Greiling über die Arbeit mit gebrauchtem Material

„Bugholz ist eine Diva“

Designer Marco Dessí über den Polsterstuhl 520 für Thonet

Designer Marco Dessí über den Polsterstuhl 520 für Thonet

Material matters

Bodo Sperlein und seine Entwürfe für den gedeckten Tisch

Bodo Sperlein und seine Entwürfe für den gedeckten Tisch

Der Geschichtenerzähler

Ein Gespräch mit dem Pariser Innenarchitekten Hugo Toro

Ein Gespräch mit dem Pariser Innenarchitekten Hugo Toro

Wie es Euch gefällt

FSB-Co-Chef Jürgen Hess über den neuen Mut zur Farbe

FSB-Co-Chef Jürgen Hess über den neuen Mut zur Farbe

„Ich liebe es, mit Licht zu arbeiten“

Designer Michael Anastassiades im Gespräch

Designer Michael Anastassiades im Gespräch

Vom Pinselstrich zur Farbwelt

Kreativdirektorin Carolin Sangha über die Color Codes bei Schönbuch

Kreativdirektorin Carolin Sangha über die Color Codes bei Schönbuch