Stories

Eine Geschichte voller Missverständnisse

von Norman Kietzmann, 07.10.2009


Alle wollen sie, alle mögen sie, alle geben vor, sie zu kennen. Und doch ist sie noch immer eine große Unbekannte. Die Nachhaltigkeit ist zum Schlagwort der Stunde avanciert. Doch was verbirgt sich genau hinter diesem Begriff? Was unterscheidet nachhaltige Konzepte von denen, die es nicht sind? Und vor allem: Warum kann sich diesem Trend heute kaum noch jemand entziehen?


Zugegeben, eigentlich kann man das Thema kaum noch hören. Alles soll plötzlich grün und nachhaltig werden – was zunächst auch gar nicht schlecht klingt. Doch irgendwie ist der gegenwärtige Wirbel zugleich suspekt. Schließlich hat sich noch vor fünf Jahren außer einer Handvoll Ökos so gut wie niemand für diese Frage interessiert. Was ist also passiert? Wieso konnte sich das Grün-Thema so schnell zu einem Trend entwickeln? Schließlich ist es kaum noch möglich, einem Produkt zu begegnen, das nicht mit tausend grünen Aufklebern auf seinen Umweltfaktor aufmerksam macht.

Nachhaltigkeit als Lifestyle-Konzept

Nachhaltigkeit hat sich längst zu einem Lifestyle-Konzept entwickelt, dessen Vertreter – die sogenannten „Lohas“ – einen „Lifestyle of Health and Sustainability“ propagieren. Auf der deutschen Homepage (www.lohas.de) fordern diese nicht weniger als „...eine Umkehrung der Lebensweise nach Selbstkenntnis, nach Stressfreiheit und Entschleunigung, Gesundheit, Nachhaltigkeit und Beständigkeit.“ Was zunächst klingt wie das Programm einer Aussteigertruppe, hat sich längst zu einer einflussreichen Kraft entwickelt, die weit über die Ökobewegung der 1980er Jahre hinausgeht. Während diese noch auf die Straße zum Demonstrieren ging oder die Schienen vor dem Atommülllager in Gorleben besetzte, machen die Lohas etwas viel Wirkungsvolleres: Sie gehen einkaufen. Ob in den Bioladen oder direkt zum Bio-Bauern, CO2-Pauschalen zum Ausgleich von Flügen (was sie aber nicht davon abhält, weiterhin um die Welt zu fliegen) bis hin zu Autos mit Hybridantrieb. Doch so seltsam dieser konsumorientierte Ansatz in den Augen vieler Alt-Ökos aussehen mag: Die Lohas haben innerhalb weniger Jahre mehr erreicht als die gesamte Öko-Bewegung der vergangenen 25 Jahre. Ihr Erfolgsrezept? Ganz einfach: Sie haben die Nachhaltigkeit sexy gemacht.

Die Macht des Marktes

Kamen nachhaltige Produkte früher noch als Jutetasche daher, die von Sandalen und Norweger-Pullovern tragenden Soziologiestudenten in Umlauf gebracht wurden, sind nachhaltige Erzeugnisse heute kaum noch als solche erkennbar. Recycling-Materialien verraten oft erst durch eine hinweisende Beschriftung, um was es sich bei ihnen handelt. Sie versprühen keine Endzeitstimmung, sondern bieten eine Alternative zu unserem bisherigen Lebensumfeld. Vor allem dieser Ansatz ist es, der ihnen den Zugang zur – wie es im Werbejargon so schön heißt – werberelevanten Zielgruppe der 14-49-Jährigen sichert. Die Lohas sind nicht deswegen erfolgreich, weil sie die Gesetze der Marktwirtschaft in Frage stellen. Sie sind deswegen erfolgreich, weil sie das System benutzen. Denn schlussendlich sind es nicht die Firmen oder gar die Politik, die über Produktentwicklungen bestimmen. Es sind die Konsumenten, die mit ihren Kaufentscheidungen – bewusst oder unbewusst – eine enorme Macht ausüben.

Wirtschaftliche Größe

Wie schnell Unternehmen mit fehlendem Grünanstrich heute in Ungnade fallen können, zeigen die deutschen Autohersteller. Noch vor wenigen Jahren weltweit als Vorreiter angesehen, wirken sie mit ihren aufgemotzten Produktpaletten auf einmal wie Dinosaurier aus grauer Vorzeit. Dass bei den Unternehmen ein Umdenken einsetzen muss, machen Zahlen wie diese deutlich: So hat sich allein in Deutschland in den Jahren 2004 bis 2007 der Umsatz der Bio-Supermärkte von 220 Millionen auf über 600 Millionen Euro verdreifacht – Tendenz weiter steigend. Schließlich reicht das Spektrum der Lohas weit über Studenten und Freigeister hinaus und hat längst die gesellschaftliche Mitte erreicht. Sie verfügen über eine ernst zu nehmende Kaufkraft, die nach aktuellen Studien bereits jetzt in den USA die Hälfte aller Kaufentscheidungen beeinflusst. Für die Wirtschaft bedeutet diese Entwicklung Bedrohung und potenzielle Goldgrube in einem. Denn Unternehmen, die den grünen Anschluss verpassen, müssen nun spürbare Nachteile gegenüber ihren Wettbewerbern befürchten. Gleichzeitig können die, die die Lohas gezielt umwerben können, mit deutlich höheren Gewinnmargen rechnen. Schließlich rechtfertigen nachhaltige Produkte in den Augen der Konsumenten auch einen deutlich höheren Preis. Sie vermitteln das Gefühl, mit dem Kauf etwas Gutes zu tun.

Schwarze Schafe

Doch hier beginnt zugleich das Problem: In dem Augenblick, wo ein neuer Trend Gewinn verspricht, mehren sich auch jene, die davon profitieren wollen, ohne tatsächlich einen Beitrag zu leisten. Schließlich sieht man den Dingen auf den ersten Blick nicht an, ob sie nachhaltig sind oder nicht. Für die Gestaltung geht es hierbei um weit mehr als „nur“ die Formgebung oder das Erfüllen ergonomisch-funktionaler Kriterien. Vor allem die Ökobilanz der verwendeten Materialien und Produktionsverfahren, die Länge der Transportwege bis hin zum späteren Recycling müssen nun hinzugezogen werden. Faktoren, bei denen mitunter selbst Fachleute kontroverser Meinung sind, wie sie tatsächlich zu beurteilen sind. Über 70 Prozent der Energie, die für ein Produkt in seinem gesamten Lebenszyklus aufgewendet wird, werden bereits während des Designprozesses festgelegt. Für die Gestalter ein immenses Maß an Verantwortung, das sie selbst kaum noch überschauen können.

Historisch fundiert

Auch wenn der Begriff der Nachhaltigkeit auf einmal schwer in Mode ist, reichen die Ursprünge erstaunlich weit zurück. So findet der Begriff bereits 1795 seine erste Erwähnung – in der „Anweisung zur Taxation und Beschreibung der Forstbestände“ des deutschen Botanikers Georg Ludwig Hartig. Dieser beschreibt eine Methode, den Wald auf schonende Weise zu bewirtschaften und nur so viele Bäume zu fällen, wie wieder nachwachsen können. Als „sustained yield“ wurde der Begriff später auch ins Englische übertragen. Doch was für den Mikrokosmos eines Waldes leicht verständlich ist, ist in der globalisierten Wirtschaft bei weitem schwieriger zu überschauen. Güter werden heute an einem Ende der Welt produziert, anderswo gehandelt und an dritter Stelle verkauft. Und selbst die Bewertung des Energieverbrauchs kann sich als überaus trügerisch erweisen.

Uneindeutige Wirkung

Ein Beispiel ist hierfür die viel zitierte Energiesparlampe. Diese verbraucht zwar 80 Prozent weniger Strom als eine klassische Glühbirne, ist dafür aber deutlich aufwändiger in der Produktion. Die eingesparte Energie wird auf diese Weise bereits wieder aufgebraucht. Doch dafür entsteht zugleich ein neues Problem: Denn Energiesparlampen enthalten hochgiftiges Quecksilber, das als Sondermüll entsorgt werden muss. Verdient sie also überhaupt die Bezeichnung nachhaltig? Dass die klassische Glühbirne aufgrund einer EU-Bestimmung dennoch bis zum Jahr 2012 ersetzt werden soll, hat einen einfachen Grund: Der gesamte Energiekreislauf erschließt sich dem Konsumenten nicht. Er sieht lediglich eine geringere Stromrechnung und erhält damit die Bestätigung, einen Beitrag für die Umwelt geleistet zu haben. Und auch die Politik kann auf diese Weise Engagement beweisen, während an anderer Stelle viel weitreichendere Ansätze ausgesessen werden können. Frei nach dem Motto: Seht her, wir machen doch was!

Neue Herausforderung

Also doch alles nur heiße Luft? Nicht ganz. Denn Nachhaltigkeit ist längst mehr als nur ein Trend. Sie ist die große Herausforderung der kommenden 25 Jahre, die bei weitem nicht nur die Unternehmen oder die Politik angeht. Auch wir werden unsere Lebensgewohnheiten umstellen müssen. Denn widerspricht nicht zuletzt auch die Globalisierung der Idee nachhaltigen Handelns? Ist es überhaupt länger zu verantworten, Waren von einem Ende der Welt ans andere zu verschiffen und Früchte aus aller Welt tagtäglich im Supermarkt zu finden? Der entscheidende Unterschied zur früheren Öko-Bewegung besteht heute allerdings darin, nicht mehr mit übertriebenen Verboten zu argumentieren und einen primitiven, rückwärts-gewandten Lebensstil zu fordern. Was Nachhaltigkeit heute leisten muss, ist ein verantwortungsvolleres Handeln, ohne dabei auf unsere zivilisatorischen Errungenschaften zu verzichten. Denn wer möchte schon nachts im Dunkeln tappen?

Welchen Mehrwert nachhaltige Konzepte dabei schon heute liefern können, möchten wir Ihnen in den kommenden zwei Wochen auf Designlines vorstellen. Wir haben uns mit Experten unterhalten, Konzepte untersucht und eine Vielzahl von Praxisbeispielen und Produkten aufgetrieben, die auf besondere Weise die Kriterien der Nachhaltigkeit erfüllen. Wer würde da noch behaupten, es handele sich um eine Geschichte voller Missverständnisse?

Mehr Beiträge zu unserem Schwerpunkt Nachhaltigkeit hier.




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Schwerpunkt Nachhaltigkeit

www.designlines.de

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